Leichtathletik:Treffen taumelnder Riesen

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Der olympische Kernsport Leichtathletik leidet in ganz Europa, das zeigt sich bei der EM in Göteborg. Vor allem junge Talente fehlen, denn es mangelt an der richtigen Nachwuchsförderung in den traditionellen Disziplinen.

Thomas Hahn

Die Krise ist gerade wieder ein bisschen eingeschlafen, und von hier oben im gediegenen Penthouse des Göteborger Hotels Gothia Towers, in dem sich ausgewählte französische Leichtathleten zu Gesprächen mit der Presse niedergelassen haben, sehen die Probleme jetzt ohnehin ganz klein aus.

Erschöpft und enttäuscht: Die Britin Louise Hazel. (Foto: Foto: AP)

Guy Ontanon weiß natürlich, dass das eine optische Täuschung ist. Aber soll er deswegen die Medaillen schlecht reden, die er, der Sprint-Nationaltrainer, und die anderen Verantwortlichen des französischen Leichtathletik-Verbandes sich von der EM erwarten?

Bei der WM 2005 in Helsinki gab es acht Medaillen, das war Rekord, darauf wollen sie aufbauen. "Zehn bis 13 Medaillen" seien das offizielle Ziel, sagt Guy Ontanon, "13, das wäre gut."

Natürlich, es gebe Disziplinen die brachlägen, im Hochsprung etwa habe man im vergangenen Jahr erst die Deutsche Melanie Skotnik rekrutiert, die dankenswerterweise eine französische Mutter hat, "weil wir da ein bisschen katastrophal waren". Guy Ontanon lacht. Grundsätzlich findet er seine Mannschaft gut.

Deutsche und Briten schwächeln

Manchmal hat man den Eindruck, auch im Sport gebe es einen Klimawandel, der schleichend fortschreitet und auf lange Sicht Veränderungen mit sich bringt, die nicht mehr zu beheben sind. Die EM von Göteborg wird bestimmt ein stimmungsvolles Fest, gerade in Schweden steht die Leichtathletik zur Zeit in hohen Ehren, weil sie in Schwedens sonnigen Medaillen-Jägern ein paar hilfreiche Werbeträger gefunden hat.

Aber dass es immer noch kalte Tage gibt, heißt ja auch nicht, dass die Gletscher nicht schmelzen. Gerade in Europas mächtigen Wohlstandsgesellschaften zeigt der olympische Kernsport deutliche Symptome des Verfalls. Diese EM ist durchaus auch ein Treffen taumelnder Riesen.

Die Deutschen leiden unter mäßigem Zuschauerzuspruch und durchwachsenen Leistungen. Noch schlimmer haben die Briten zu leiden: Die Felder bei den traditionellen Nachwuchswettkämpfen werden dünner, das Niveau sinkt und mit Medaillenbilanzen lässt sich vorerst überhaupt nichts übertünchen.

Die WM in Helsinki war ein Reinfall mit nur drei Medaillen, selbst der hauseigene Statistiker des Verbandes UK Athletics, Rob Whittingham, muss bestätigen: "Die Elite-Leistung in Großbritannien ist im globalen Vergleich die schlechteste der Geschichte."

Die wenigen Talente stehen unter Druck

Es gibt ein paar Talente, aber in die setzt der Olympia-Gastgeber von 2012 schon so große Hoffnung, dass Experten befürchten, die Teenager könnten am Druck zerbrechen.

Erst vergangene Woche erklärte die Times, "warum Großbritannien auf dem Weg zu einer Olympia-Blamage ist". Und für die EM sind eigentlich nur die Funktionäre optimistisch. Sie rechnen mit zehn Medaillen, seriöse Zeitungen wie der Guardian dagegen bereiten ihre Leser darauf vor, dass es möglicherweise nur eine gibt.

Die Aussicht auf die Spiele in London hat stattliche Ressourcen freigelegt, ein Versicherungsunternehmen allein zahlt 50 Millionen Pfund für den Aufbau einer Olympiamannschaft und macht UK Athletics zum reichsten Leichtathletik-Verband der Welt.

Geschäftsführer David Moorcroft steht unter enormem Druck und tüftelt nun an Programmen für die Zukunft. Denn ohne Programme geht es nicht, das ist klar. "Was auch immer der Sport vor 20 Jahren war, er ist nicht mehr derselbe", sagt er, "wir können uns nicht darauf verlassen, dass Leichtathletik einfach passiert und schon großartige Talente auftauchen werden, wenn man nur die Daumen drückt."

Womit Moorcroft endlich beim eigentlichen Thema der Malaise wäre, nämlich den gesellschaftlichen Veränderungen, unter denen der olympische Kernsport mit seinen trainingsintensiven, technisch anspruchsvollen Disziplinen im Kommerzzeitalter immer mehr zu leiden hat.

Junge Sportarten, eine verlockende Unterhaltungsindustrie und ein technisierter Alltag haben die Ansprüche der Jugend verändert, sie bewegt sich weniger und hat deswegen im Durchschnitt an Kondition verloren. Es ist fast überall das Gleiche. Selbst in Russland, einsamer Favorit für den Gewinn der Nationenwertung, beklagen Trainer erste Zeichen des Niedergangs, weil seit dem Ende des Kalten Krieges Platz geworden ist für alle möglichen Einflüsse, die vom Sport ablenken.

Lieber Funsport als Leistungssport

Und auch Guy Ontanon ist irgendwann bei den Grundsatzfragen des 21. Jahrhunderts angekommen. Frankreichs Leichtathletik-Nationalmannschaft hat turbulente Jahre hinter sich: die WM 2003 in Paris, die eine Werbung für den Leistungssport war, und eine bittere Niederlage bei Olympia 2000 in Sydney mit einer Bilanz von null Mal Gold, null Mal Silber und null Mal Bronze. Der Wunsch nach Revanche setzte Energien frei, die Aussicht auf das Heimspiel motivierte - jetzt ist das Ansehen renoviert, aber an der Basis sieht Guy Ontanon weiterhin wenig Anlass zu Optimismus.

Der Schulsport darbt, die traditionellen olympischen Disziplinen haben an Stellenwert verloren in der Erziehung der Jugendlichen. In der Konsumgesellschaft ist auch der Sport zum Konsumgut geworden: "Die Leute wollen ein bisschen Walking machen auf der Straße oder am Sonntagnachmittag eine Runde inlineskaten", sagt Guy Ontanon.

Er steht immer noch hoch über den Dächern Göteborgs im gediegenen Ambiente des Hotelturms. Nebenan brummt der Betrieb eines Vergnügungsparks, alles ist sehr gefällig. Aber die Wirklichkeit ist kompliziert. Guy Ontanon macht sich keine Illusionen, er ist Leistungssporttrainer in einem Kontinent der unbegrenzten Bequemlichkeiten. "In ein paar Jahren wird man einen enormen Absturz haben", sagt er. Egal, wie diese EM ausgeht.

© SZ vom 8.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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