Leichtathletik:Neue Wege

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Berlin und nicht Katar: Statt bei der WM lief Philipp Pflieger – wie hier im April beim Halbmarathon – die 42,195 Kilometer lieber in der Hauptstadt. (Foto: Jan Huebner/imago)

Philipp Pflieger gehört zu den besten deutschen Marathonläufern. Nach zwölf Jahren wechselt er von Regensburg nach Hamburg, weil er noch einmal international auf sich aufmerksam machen will: bei Olympia.

Von David Fuhrmann

Philipp Pflieger verlässt gerne alte Bahnen, geht andere Wege, sucht neue Horizonte. Er, der zu den besten deutschen Marathonläufern gehört, definiert sich längst nicht nur über den Laufsport. "Wenn ich mit meinen 32 Jahren nur das Laufen im Sinn hätte, wäre mein Leben ziemlich öde", sagt der Regensburger. Omnipräsent weiß er die sozialen Medien geschickt für sich zu nutzen: Mal zeigt er sich beim Rennen gegen eine Influencerin, die auf einem E-Scooter fährt, mal lässig beim Sponsorentermin vor der Siegessäule, oder intellektuell beim Lesen im Café. Pflieger, der im internationalen Vergleich sportlich eine eher unbedeutende Rolle spielt und von sich selbst sagt, dass er höchstwahrscheinlich niemals einen Marathon unter 2:10 Stunden laufen wird, ist ein personifiziertes Laufunternehmen. Er ist ein Markenbotschafter für seinen Sport, er verleiht ihm Flair. Nicht, weil er ein Ausnahmetalent ist, sondern weil er über den Leistungssport hinausdenkt.

Dass er Raum für diese Gedanken hat, liegt an einem Tag im Jahr 2015, der sein Leben in andere Bahnen lenkte. Es war der 27. September beim Berlin-Marathon, ein Jahr nach seinem Kollaps beim missglückten Debüt über diese Distanz in Frankfurt. In Berlin wollte er einen letzten Anlauf wagen, um sein großes persönliches Ziel zu erreichen, für das er 20 Jahre lang trainiert hat: die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2016 in Rio. Und es gelang ihm. Seine persönliche Bestzeit von 2:12:50 Stunden reichte, nachdem die Olympianorm später nach unten korrigiert wurde. "Ich hätte am gleichen Tag meine Karriere beendet, hätte es damals nicht geklappt", sagt Pflieger über den Schlüsseltag seiner Laufbahn. In Rio verwirklichte er dann seinen Kindheitstraum, überquerte als bester deutscher Läufer nach 2:18:56 Stunden das Ziel und damit die Trennlinie zwischen seinem alten und neuen Leben.

Für seine zweite Teilnahme bei Olympia muss Pflieger eine neue persönliche Bestzeit laufen

Sein altes Leben war geprägt von Sorgen, mit denen viele talentierte Laufsportler zu kämpfen haben, insbesondere finanzieller Natur. "Ich wusste manchmal im August nicht, wie ich im September die Miete bezahlen soll", sagt Pflieger, der seine schwäbische Heimatstadt Sindelfingen fürs Studium verließ, um in Regensburg auch ein neues sportliches Zuhause zu finden. Dort verlagerte er seinen Disziplinschwerpunkt sukzessiv in Richtung Marathon. Zum alten Leben gehörten Rückschläge wie ein kompliziert gebrochener Fuß oder Haarrisse im Kreuzbein.

Die Olympischen Spiele in Rio waren der Wendepunkt. Unterstützt von neuen Sponsoren, vermarktet von einer Werbeagentur und gelöst durch den erfüllten Traum, stellte er sich auf ein breiteres Fundament abseits des reinen Wettbewerbs. "Ich lasse ungern Chancen ungenutzt verstreichen und probiere gerne Neues aus", sagt Pflieger, der sich jüngst auch als Buchautor ausprobiert hat, um seine Geschichte mitzuteilen. Das Publikum dafür hat er. Die Faszination Marathon ist gerade unter den Amateursportlern groß. Aber was bedeutet der Marathon noch für einen Spitzensportler, der nicht mehr auf Preisgelder angewiesen ist und den olympischen Traum schon leben durfte? Wofür weiterhin über 200 Kilometer in der Woche laufen?

Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft ließ Pflieger dieses Jahr sausen, die Vergabe nach Katar habe ihm nicht zugesagt, Katar habe keine Leichtathletikkultur und die klimatischen Bedingungen seien ihm zu extrem gewesen. Womit er, mit Blick auf die Sportler, die nachts vor einer geisterhaften Kulisse reihenweise zusammenbrachen, recht behalten sollte. Kritiker unterstellten ihm, finanzielle Beweggründe seien treibend für seine Entscheidung gewesen. Bei einer WM winke nicht das gleiche Startgeld wie beim Berlin-Marathon, der zeitgleich zur Leichtathletik-WM stattfand - und an dem Pflieger teilnahm. So oder so: Ein professioneller Läufer kann im Jahr aufgrund der intensiven Vorbereitungszeit nur zwei ernsthafte Marathonversuche starten. Pflieger kann inzwischen wählerischer sein.

"Je länger man dabei ist, desto mehr Demut bringt man dem Thema Marathon entgegen", sagt Pflieger, der den Berlin-Marathon im September aufgrund einer Verletzung vorzeitig abbrechen musste. Damit verpasste er die vorzeitige Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio 2020. "Drei Monate Schinderei und Quälerei für nichts", sagte Pflieger danach enttäuscht, "meine Vorbereitung war nahe am Optimum, so ein Tag ist deswegen schwer zu akzeptieren." Es ist der Mythos Olympia, der Pflieger nicht loslässt, das möchte er noch einmal erleben. "Olympia ist größer als alles andere." Dafür wird Pflieger 2020 seinen Verein LG Telis Finanz Regensburg nach zwölf Jahren verlassen und sich dem Lauf Team Haspa Marathon in Hamburg anschließen, für das er beim hauseigenen Marathon starten wird, um das Ticket für Olympia zu lösen. Dass große Marathon-Veranstalter mit eigenen Teams an den Start gehen, ist en vogue, die Spitzenathleten sollen als Aushängeschild für die Läufe agieren. Pfliegers Wechsel nach Hamburg ist aus seiner Sicht durchaus schlüssig. So verknüpft er seine sportliche mit der unternehmerischen Welt: Neben der Werbeagentur, bei der er unter Vertrag steht, sind hier auch der Verlag ansässig, der sein Buch herausgegeben hat - wie auch eine Kinderrechtsorganisation, für die er sich einsetzt. Ausschlaggebend für das neue Team war aber auch, dass er seinen Wohnort nicht nach Hamburg verlagern muss, er kann in Regensburg bleiben, wo er sich über die vergangenen Jahre ein dicht geknüpftes Netz aus Physiotherapeuten und Ärzten aufgebaut hat.

Für seine zweite Olympiateilnahme muss er allerdings eine neue persönliche Bestzeit laufen, die zu erreichende Norm liegt bei 2:11:30 Stunden. "Die Zeit ist ein Brett", sagt er, "aber ich halte es für realistisch." Die kommenden Vorbereitungsmonate seien die entscheidenden. Im Januar wird er zum Höhentrainingslager nach Kenia aufbrechen, in den Monaten danach muss jedes kleine Detail stimmen, bis zum 19. April, dem Tag des Hamburger Marathon. "Wenn es für Tokio reicht, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt", sagt Philipp Pflieger und muss dabei lachen. "Wenn es nicht reicht, dann bin ich glücklich über diesen einen Tag im September 2015."

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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