Leichtathletik:Harte Schule

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Der Norweger Karsten Warholm wiederholt ein seltenes Kunststück des Deutschen Harald Schmid: Nur kurz nach dem Europarekord über 400 Meter Hürden liefert er noch eine anspruchsvolle Zeit über die Flachstrecke ab.

Von Joachim Mölter, Stockholm/München

Von allen Laufstrecken, die man sich in der Leichtathletik aussuchen kann, sind die 400 Meter die härteste; und härter geht's nur, wenn man sich dabei auch noch Hürden in den Weg stellt. So hat das einmal Harald Schmid beschrieben, der es wissen muss. Der Mann vom TV Gelnhausen war dreimal Europameister auf der Hürdendistanz, 1978, 1982 und 1986, und zweimal auch mit der deutschen 4x400-Meter-Staffel, 1978 und 1982. Beim Europacup 1979 in Turin brachte der damals 21-Jährige sogar das Kunststück fertig, erst einen Europarekord über die Langhürden zu rennen, in 47,85 Sekunden, und nur eine Stunde später die Flachstrecke zu gewinnen, in 45,31 Sekunden.

In der Leichtathletik-Geschichte hatte es bis dahin niemanden gegeben, der zwei derartig anspruchsvolle Leistungen innerhalb so kurzer Zeit aneinandergereiht hat. "Normal zur Erholung sind zwei und mehr Stunden", erklärte der Kölner Sportmediziner Wildor Hollmann damals dem Nachrichtenmagazin Spiegel; der Professor attestierte Schmid "anomal gute Erholungswerte" und befand diese sogar als "medizinisch geradezu rätselhaft".

Nun hat es in der Tat 41 Jahre gedauert, ehe einem Langsprinter wieder ein solches Double gelungen ist: Beim Diamond-League-Meeting in Stockholm verbesserte der Norweger Karsten Warholm am Sonntagnachmittag erst seinen eigenen Hürden-Europarekord um fünf Hundertstelsekunden auf 46,87 Sekunden - und gewann dann, nur anderthalb Stunden später, auch noch über 400 Meter flach, in 45,05.

Allein auf weiter Bahn: Langhürden-Europarekordler Karsten Warholm hat beim Leichtathletik-Meeting in Stockholm sein Bestes gegeben, um die Abstandsregeln einzuhalten. (Foto: Adnreas Eriksson/imago)

"Um ehrlich zu sein, bin ich jetzt müde", zitierte die norwegische Tageszeitung Verdens Gang den 24 Jahre alten Läufer danach: "Ich habe alles über 400 Meter Hürden gegeben, aber gleichzeitig wollte ich eine Herausforderung haben und sehen, was ich kann. Es ist auch ein gutes Training, zwei harte Rennen zu bestreiten." Das entspricht der Philosophie seines Coaches Leif Olav Alnes, eines grauhaarigen, manchmal etwas zerzaust wirkenden Mannes von 63 Jahren. "Man kann sich im Training nie so an die Grenzen treiben wie in einem Wettkampf", hat Alnes vor drei Jahren erklärt, als sein Athlet bei den Junioren-Europameisterschaften über 400 Meter und auch über 400 Meter Hürden startete und einmal Zweiter und einmal Erster wurde.

Neben offenbar außergewöhnlichem körperlichen Talent verbindet Schmid und Warholm noch eine ungewöhnliche mentale Einstellung: Beide haben bzw. hatten keine Scheu vor anstrengenden Wettkämpfen. Für die heutige, hochspezialisierte Generation von Leichtathleten mit ihren in der Regel spärlich dosierten Auftritten ist es kaum noch vorstellbar, wo und wie sich Harald Schmid seine Form und seine Wettkampfhärte holte: Er sprintete mal da die 200 Meter für seine Spritzigkeit und lief mal dort die 800 Meter für sein Stehvermögen. Warholms Grundlage ist sogar noch breiter: Als Jugendlicher war er Mehrkampf-Weltmeister, seine besten Disziplinen im Zehnkampf waren 400 Meter und 110 Meter Hürden, da fand er selbst: Es lag nahe, beides mal zu kombinieren.

Seit er sich auf eine Disziplin konzentriert, war Warholm zweimal Weltmeister, 2017 in London sowie 2019 in Doha, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis er auch den Weltrekord in seinen Besitz gebracht hat: Der steht bei 46,79 Sekunden, aufgestellt vom Amerikaner Kevin Young bei seinem Olympiasieg 1992 in Barcelona, vier Jahre vor Warholms Geburt also.

"Es war ein fantastisches Rennen, absolut genial", schwärmte sein Coach nun und erinnerte: "Es waren schwierige Bedingungen." Wegen der Corona-Pandemie hatten sich Trainer und Athlet zuletzt weitgehend abgeschottet und nach dem Saisonstart in Monaco Mitte August mit bereits sehr beachtlichen 47,10 Sekunden daheim in Norwegen gemeinsam in Quarantäne begeben. Im Keller der Wohnung installierten sie sogar ein Laufband fürs Training, nach Stockholm reisten sie im Wohnmobil.

Im alten Olympiastadion von 1912 hatte Warholm dann weitere Widrigkeiten zu bewältigen. Innerhalb der Mauern wehte Wind, und den haben die Hürdenläufer nicht so gern, weil er ihren genau getakteten Rhythmus zwischen den Hindernissen in Gefahr bringt. Zudem startete Warholm auf der Außenbahn, er hatte keine Gegner um sich, die ihm Windschatten hätten spenden können; er hatte auch niemanden vor sich, an dem er sich hätte orientieren können; er hatte überhaupt keinen Rivalen im Feld, der ihn wirklich hätte fordern können. Schließlich blieb er mit dem rechten Fuß noch an der letzten Hürde hängen, was weitere Sekundenbruchteile kostete. "Ich dachte erst, das Rennen sei ruiniert, als ich die Hürde genommen habe", sagte er ins Stadionmikrofon und fügte hinzu: "Ich glaube, ich bin dafür belohnt worden, dass ich bis zum Schluss alles gegeben habe. Es war eine gute Lektion, bis zur Ziellinie durchzuziehen. Ich schaute auf die Uhr und sah die Zeit, und sie war groß."

Das ist sie in der Tat. Karsten Warholm ist nun der zweitschnellste 400-Meter-Hürdenläufer der Historie und der Erste, der die 47-Sekunden-Marke zweimal unterboten hat. Wann er das nächste Mal läuft, ist wegen der ständig wechselnden Corona-Vorgaben ungewiss. Sicher ist nur, dass der Weltrekord in Gefahr sein wird.

© SZ vom 25.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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