Leichtathletik-EM:Zwei Zentimeter Vorsprung

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Ralf Bartels aus Neubrandenburg gewinnt überraschend das Kugelstoßen im letzten Versuch. Auch die Hammerwerferin Betty Heidler hat Chancen.

Joachim Mölter

Morgens um zehn ist der Athletenkörper in aller Regel noch nicht bereit für Höchstleistungen, muss sie aber mitunter doch bringen.

Das macht die Sache schwierig, wenn bei internationalen Meisterschaften eine Qualifikation am Vormittag angesetzt ist.

Auch der Kugelstoßer Ralf Bartels aus Neubrandenburg hat das schon erfahren.

Zu der Hallen-WM im März reiste er als einer der Favoriten nach Moskau, aber schon nach der Qualifikation war der Wettkampf für ihn beendet; die Titelvergabe schaute er sich von der Tribüne aus an.

Das war ein prägendes Erlebnis für den WM-Dritten von 2005: "Ich werde daran arbeiten, dass ich nicht wieder so neben mir stehe wie in Moskau", versprach der 28-Jährige vor den Europameisterschaften in Göteborg.

Das ist ihm gelungen am Montagmorgen. Gleich im ersten Versuch der Qualifikation erzielte er 20,58 Meter, was sich später als beste Weite aller Teilnehmer herausstellte: "Das gibt natürlich Selbstsicherheit" für das Finale der besten Zwölf am Abend.

Etwas später tat es ihm die Hammerwerferin Betty Heidler, 22, aus Frankfurt nach. Auch sie war schon mal in einer Qualifikation ausgesiebt worden, voriges Jahr bei der WM in Helsinki, auch ihr genügte ein großer Wurf (auf 71,40 Meter), um sich die Finalteilnahme an diesem Dienstag zu sichern.

"Ich bin schon sehr erleichtert", sagte sie. Bartels sagte: "Die Anspannung, die bei so einem Wettkampf herrscht, kann ja kaum einer nachvollziehen." Sie ist manchmal größer als vor dem Finale: Wer in der Qualifikation scheitert, muss sich sehr unangenehmen Fragen stellen. Wenn er sich die nicht gleich selber stellt.

Gespräche mit der Psychologin

Insofern war der Auftakt zu den kontinentalen Titelkämpfen entspannend für den Deutschen Leichtathletik-Verband, weil das schlimmste Szenario nicht eintrat, und die Medaillenhoffnungen Bartels & Heidler ihr Morgentrauma ganz offensichtlich überwunden haben, auf völlig unterschiedliche Weise: Bartels kurierte sich selbst, Heidler nahm professionelle Hilfe in Anspruch.

Auf die verzichtete der Kugelstoßer bewusst: "Das kriege ich selber hin", glaubte Bartels, "ein Psychologe findet vielleicht etwas, was gar nicht da ist." Stattdessen suchte er mit seinem Trainer Gerald Bergmann nach Gründen für das frühzeitige Scheitern in Moskau. Das Ergebnis der Analyse: "Die Sache ist halt passiert." Die Konsequenz: "Wir haben beschlossen, nichts grundsätzlich anders zu machen."

Die Anspannung vor der morgendlichen Qualifikation sei zwar schon "relativ groß" gewesen, auch wegen der Erfahrung von Moskau, aber nicht nur deswegen, sagte Bartels: "Man kann auch dann aufgeregt sein, wenn man das nicht im Hinterkopf hat."

Bei Betty Heidler war sogar mehr als nur ein Misserfolgserlebnis im Hinterkopf: Sie war erst Ende Juni abermals bei einem großen Wettkampf gescheitert, beim Europacup in Malaga brachte die deutsche Meisterin keinen gültigen Versuch zustande. "Mir hat es geholfen, dass ich das im Kopf hatte", sagte Heidler nun: "Ich wusste, dass ich das nicht noch mal so mache." Das Wissen rührt aus der Erfahrung, "ich bin technisch so sicher, dass ich selbstbewusst in den Wettkampf gehen kann".

Sie hat bis auf den Ausrutscher an der spanischen Mittelmeerküste ja immer konstant Leistungen auf hohem Niveau erzielt in diesem Sommer und den deutschen Rekord insgesamt viermal gesteigert, zuletzt auf 76,55 Meter. Die mühelose Qualifikation am Montagmorgen bestätigte sie nun "in der Gewissheit, dass ich alles nur so machen muss wie im Training".

Gesagt hat ihr das die Psychologin Heike Kugler aus Magdeburg, die unter anderen auch die Kugelstoßerin Nadine Kleinert betreut. Wobei man sich das "nicht so couchmäßig" vorstellen darf, wie Betty Heidler erzählt. Die ganze Behandlung gehe sehr entspannt vonstatten, die Gespräche fänden beim Spazierengehen, Essen oder Telefonieren statt, und gingen auch nicht sonderlich in die Tiefen des Unterbewusstseins.

Kugler gebe manchmal bloß Hinweise wie die, "dass jeder Wettkampf neu ist; dass ich mich nicht davon ablenken lassen soll, wie der letzte war; dass ich locker und mit Freude an den Wettkampf herangehe und nichts besonderes sehen soll an großen Wettkämpfen". Betty Heidler weiß, dass sich das alles ganz einfach anhört und so gar nicht geheimnisvoll: "Aber manchmal muss man halt wieder darauf gebracht werden."

© SZ vom 8.8.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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