Leichtathletik:Ein Schuh wird zum Problem

Lesezeit: 3 min

Seit Nike ein Modell entwickelt hat, das seine Läufer bevorteilt, hat der Rest einen Wettbewerbsnachteil.

Von Christian Brüngger

Im Langstreckenlauf ist ein neues Zeitalter angebrochen. Vordergründig dafür verantwortlich ist der Kenianer Eliud Kipchoge. Er drückte im Herbst den Marathonweltrekord auf 2:01:39 Stunden. Kipchoge war 78 Sekunden schneller als sein Vorgänger. Letztmals hatte ein Athlet vor 51 Jahren diesen Prestigerekord um mehr Sekunden unterboten.

Inzwischen weiß man mit hoher Wahrscheinlichkeit: Kipchoges Coup ist zu großen Teilen auf seine Schuhwahl zurückzuführen. Denn er unterbot die Zeit auch dank eines neuen Modells seines Sponsors Nike. Dieses verbessert selbst bei Ausnahmekönnern wie Kipchoge die Laufökonomie. Er verbraucht folglich weniger Energie als beim gleichen Tempo mit anderen Schuhen - und kann länger schnell rennen.

"Vaporfly 4 %" nennt Nike seinen Schuh, in Anspielung an die um vier Prozent verbesserte Laufökonomie. Eine Analyse der New York Times mit einem riesigen Datensatz offenbarte im vergangenen Jahr: Wer den Vaporfly im Wettkampf trage, verbessere nicht nur seine Laufökonomie, sondern laufe im Schnitt auch deutlich schneller als mit anderen Schuhen. Demnach verfügt man im Nike-Schuh über eine Wahrscheinlichkeit von 63 Prozent, seine Marathonbestzeit zu verbessern.

Die beiden Superstars des Marathons Eliud Kipchoge and Mo Farah vor dem Marathon in London. An ihren Füßen: Nike Vaporfly 4%. (Foto: Joe Maher/Getty)

Nike hatte seinen Schuh bei der Lancierung 2017 damit beworben, dass dieser der ultimative Schnellmacher im Markt sei. Weil die Aussage aber auf einer Studie basierte, die Nike initiiert hatte, tat man den oft vollmundigen Sportgiganten einmal mehr als Lautsprecher ab - bis die New York Times und zwei weitere unabhängige Studien diese Ergebnisse stützten. Von da verlangte jeder zeitaffine Läufer nach dem Schuh.

War die erste Version kaum erhältlich und auf dem Schwarzmarkt mehrere hundert Dollar wert, änderte der Hersteller die Strategie mit der zweiten Generation und ließ ausreichend viele Paare herstellen - obschon der Schuh rund 250 Euro kostet. In den USA sind es 250 Dollar. Der Durchschnittspreis sind 100 Dollar. Nike setzte den Vaporfly also sehr hochpreisig an - und hat dank der erwiesenen Schnellmacherdienste den Traum jedes Herstellers kreieren können: einen Renner. Bald kommt die neuste Version auf den Markt. Mit 275 Dollar wird er noch teurer sein als der ohnehin schon teure Vorgänger.

Topläufer im angemalten Konkurrenzprodukt

Insgesamt bringt Nike die anderen Schuhhersteller unter Zugzwang. Zumal die Amerikaner gemäß der New-York-Times-Daten auch den zweitschnellsten Schuh liefern können (siehe Liste). Dieser klare Vorteil sorgt innerhalb der Weltklasseläufer für rote Köpfe. Schließlich fühlen sich Athleten benachteiligt, die andere Schuhe tragen müssen, weil sie von einem anderen Hersteller gesponsert werden.

Eine der bizarrsten Szenen diesbezüglich ließ sich im Januar beim Dubai-Marathon beobachten: Der Äthiopier Herpassa Negasa − von Adidas gesponsert − kaufte sich einen Vaporfly, malte ihn mehr schlecht als recht um und rannte zu Platz zwei und klarer Bestzeit. Dass er seinen Hauptsponsor mit dieser Aktion maximal verärgerte, nahm Negasa in seiner Verzweiflung hin. Verständlicherweise: 68 Prozent aller Top-3-Athleten bei den sechs weltgrößten Marathons trugen im vergangenen Jahr einen Vaporfly.

An diesem Sonntag beim London-Marathon präsentieren sich Weltrekordhalter Kipchoge und Europarekordhalter Mo Farah mit dem neusten Modell. "Vaporfly Next %" heißt es, weil Nike bewusst offenlässt, um wie viel schneller es mit ihm noch geht. Die Nike-Athleten haben sich so in die Köpfe ihrer Gegner gelaufen. Wer schließlich weiß, dass er trotz gleich guter Verfassung wegen des Materials wohl chancenlos sein wird, fühlt sich bereits vor dem Start geschlagen. Bis im kommenden Jahr die Olympischen Spiele stattfinden, haben darum die anderen Schuhhersteller eine maximale Herausforderung zu lösen. Immerhin hatten sie seit 2017 und der Lancierung nun Zeit, den Vaporfly bis ins kleinste Detail zu zerlegen und seine Geheimnisse zu erfahren.

Nur: Was den Schuh exakt so schnell macht, hat man bislang nicht herausgefunden. Klar ist: Es hängt mit der dicken Zwischensohle zusammen, die einen sehr hohen Teil der Energie zurückgibt, die ein Läufer aufwendet. Die Karbonplatte, die unter dem Schaumstoff liegt, begünstigt wiederum die Kraftübertragung. Auch andere Hersteller aber versuchten sich schon an Schaumstoff mit sogenanntem Rebound-Effekt und an Karboneinlagen. Einen ähnlich schnellen Schuh aber konnten sie nicht kreieren. Und Nike ist natürlich kein bisschen daran interessiert, das Geheimnis preis zu geben - sofern der Hersteller überhaupt exakt weiß, warum sein Schuh so funktioniert, wie er es tut.

Tiefere Pulswerte im Vaporfly

Das Ergebnis ist auf jeden Fall erstaunlich. So ließ die Schweizer NZZ den früheren Schweizer Marathonrekordhalter Viktor Röthlin erst mit dem Vaporfly und zehn Tage danach mit einem Asics DS Trainer eine 10-km-Strecke laufen - bei gleichem Tempo um 3:30 Minuten pro Kilometer. Mit dem Vaporfly lag sein Durchschnittspuls bei 162 Schlägen pro Minute. Mit dem Asics bei 171. Sein Maximalpuls fiel gar 18 Schläge höher aus. Andere Vaporfly-Läufer berichten von ähnlichen Erfahrungen. Sie alle sind zwar singuläre Beispiele. In der Summe aber stimmen ihre Angaben mit denen überein, die die New York Times publizierte.

Dem Laufsport jedoch tut der Schuh nur bedingt gut. Schließlich war der Einfluss des Materials bislang marginal. Vergleiche mit Sportarten wie der Formel 1, in der Materialentwicklung immer schon über Siege oder Niederlagen mitentscheiden konnten, sind eigentlich unpassend. Bislang.

© SZ vom 28.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: