Leichtathletik:Die Qual der Auswahl

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In seinen Wurf-Abteilungen hat der Deutsche Leichtathletik-Verband ein Luxusproblem: Es gibt viel mehr konkurrenzfähige Athleten als Startplätze bei den Weltmeisterschaften im August in London.

Von Joachim Mölter, München

Am Wochenende ist nun auch Robert Harting in diese Leichtathletik-Saison eingestiegen, der Olympiasieger von London 2012 warf beim Pfingstsportfest in Rehlingen den Diskus 64,99 Meter weit. Ihm war das nicht weit genug, er haderte - mit der noch fehlenden Kraft im operierten Knie, mit dem Wind, der "die Leistung um einen bis eineinhalb Meter reduziert" habe. Dabei hatte dem Berliner ja bloß ein Zentimeter gefehlt, um auf Anhieb die Norm des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) für die WM im August in London zu erfüllen. "Ich hätte noch mal nachmessen lassen sollen", scherzte Harting.

Das hätte er vielleicht tatsächlich tun sollen, denn so wie es aussieht, kommt es bei der WM-Nominierung in den Wurfdisziplinen des DLV wieder auf jeden Zentimeter an. Bei den Diskuswerfern hat bislang zwar nur der Magdeburger Martin Wierig die geforderte Weite abgeliefert (65,56 Meter), aber dessen Klubkollege David Wrobel (64,66) ist nicht weit entfernt, und außer mit Robert Harting muss man ja auch mit dessen Bruder Christoph rechnen, dem Olympiasieger von Rio 2016, zudem mit anderen Olympiastartern wie Markus Münch oder Daniel Jasinski. Wenn alle in Schwung kommen, droht ein ähnliches Szenario wie es bei Diskuswerferinnen und Speerwerfern bereits herrscht: Die Qual der Auswahl - bei den Weltmeisterschaften dürfen ja höchstens drei Athleten pro Nation und Disziplin antreten.

Es ist zweifellos ein Luxusproblem, das der DLV mit seiner Wurf-Abteilung hat: viel mehr konkurrenzfähige Athleten als Startplätze bei den globalen Titelkämpfen. Am extremsten ist die Leistungsdichte derzeit bei den Speerwerfern, wo Thomas Röhler, Johannes Vetter, Andreas Hofmann und Lars Hamann die Plätze eins, zwei, drei und sieben in der aktuellen Weltjahresbestenliste behaupten. Die drei Erstgenannten messen sich an diesem Donnerstag beim Diamond-League-Meeting in Rom mit der weltweiten Konkurrenz.

"Es ist unstrittig, dass er zur WM fährt, wenn er gesund bleibt": Speerwurf-Rekordler Thomas Röhler, 25, aus Jena. (Foto: Shizuo Kambayashi/AP)

René Sack, der für die Diskuswerferinnen zuständige Bundestrainer, hat sogar ein halbes Dutzend Athletinnen, die bereits die WM-Norm überboten haben; er sieht so eine Fülle generell positiv: "Wenn drei Athletinnen verletzt ausfallen, kann ich immer noch drei zur WM schicken." Das Überangebot birgt freilich immer auch Streit und Zwist. Im vorigen Jahr versuchte die Speerwurf-Weltmeisterin Katharina Molitor aus Leverkusen sogar, sich ins Olympia-Team einzuklagen. In dieser Saison ist die 33-Jährige fein raus: Als Titelverteidigerin hat sie ein persönliches Startrecht; zudem haben die Rivalinnen Linda Stahl, 31, und Christina Obergföll, 35, ihre Karrieren beendet. "Es ist schön, den Druck nicht zu haben", sagt Molitor, "die Hürde der Qualifikation ist ja weg."

Ihre Ausbootung für die Spiele in Rio beschäftigt sie immer noch. "Richtig abgehakt ist's nicht", gibt sie zu, betont aber, dass sich ihr Vorgehen gegen die Art der Nominierung richtete, nicht gegen ihre nationalen Rivalinnen. "Mein Wunsch an den DLV wäre, die Nominierungsrichtlinien mal so zu gestalten, dass ein Athlet vorher sicher weiß, wann er dabei ist und wann nicht." Die Vorgaben des DLV lassen allerdings auch in diesem Jahr wieder genügend Interpretations- und Gestaltungsspielraum. Das Ergebnis der deutschen Meisterschaften Anfang Juli in Erfurt fließt in die Überlegungen ein, die Konstanz der Ergebnisse, die Saison-Bestleistung. "Es gibt tausend Kriterien", sagt Katharina Molitor einsichtig, "aber vielleicht sollte man es trotzdem einfacher machen."

Boris Obergföll, der für die Speerwerfer verantwortliche DLV-Trainer, hat eine Idee: "Die beste Leistung nehmen, dazu den Durchschnitt aus der zweit-, dritt-, viert- oder auch fünftbesten Leistung. Die Frage ist ja auch, wie konstant einer wirft. So wäre das eine plausible Geschichte, ersichtlich für alle." Er weiß aber auch: "Die Nominierungsrichtlinien juristisch so zu fassen, dass alle Disziplinen glücklich sind, ist echt schwer. Die Diskussion geht ja immer dann los, wenn es eine enge Nummer wird; wenn die Athleten ganz nah beieinander liegen." Wobei es wieder eine Frage der Definition ist, was "nah beieinander" bedeutet: Sind die zwei Meter, die Lars Hamann von Andreas Hofmann trennen nah? Und spielt es eine Rolle, dass Hamann den Kollegen Vetter bereits zweimal im direkten Vergleich bezwungen hat, zuletzt am Wochenende in Rehlingen?

Boris Obergföll könnte da in einen Interessenskonflikt geraten, weil er Vetter auch als Heimtrainer betreut. "Entscheidend sind die Leistungen, wenn es in Richtung Saison-Höhepunkt geht", hat er der Fachzeitschrift Leichtathletik unlängst versichert: "Wenn drei Athleten besser sein sollten, müsste mein Heim-Athlet zu Hause bleiben, so hart das ist. Etwas anderes wird es unter meiner Führung nicht geben." Lediglich auf einen WM-Start von Thomas Röhler will er sich festlegen, der Mann aus Jena hat seinem Olympiasieg von Rio zu Saisonbeginn einen deutschen Rekord folgen lassen: "Es ist unstrittig, dass er zur WM fahren wird, wenn er gesund bleibt."

Generell wird das Auswahlproblem bestehen bleiben. "In diesem Jahr wird das Ziel sein: Aus vier mach drei", sagt Obergföll, "ich muss ja fast froh sein, dass sich Julian Weber verletzt hat." Der Olympia-Neunte aus Mainz nimmt dem DLV damit schon mal eine Entscheidung ab.

© SZ vom 08.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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