Leicester City:Alles verlernt

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Torjäger außer Dienst: Jamie Vardy von Leicester City. (Foto: Carl Recine/REUTERS)

Ohne Hingabe, ohne Herz, ohne Hunger: Englands Überraschungsmeister Leicester irrlichtert durch die Saison und steckt mitten im Abstiegskampf.

Von Thomas Schifferle, Leicester/München

Als N'Golo Kanté noch für Leicester City spielte, erzählte Claudio Ranieri einmal eine wunderbare Episode: "Er rennt so viel, dass ich denke, er muss eine Packung Batterien in den Hosen haben. Er hört im Training nie auf zu rennen. Ich habe ihm gesagt: ,N'Golo, mach langsam, renne nicht jedem Ball nach, okay?" - "Ja Boss, ja, okay", hat Kanté geantwortet - wenige Sekunden später flitzte er dem nächsten Ball hinterher. Ranieri meinte: "Eines Tages sehe ich dich, wie du den Ball flankst und dann mit dem Kopf gleich selbst das Tor erzielst."

Vor wenigen Wochen sah Ranieri ihn wieder, diesen kleinen, zähen Franzosen - dummerweise nicht mehr im Blau von Leicester, sondern im Blau des FC Chelsea. Als sie einander vor Anpfiff über den Weg liefen, hätte Ranieri Kanté am liebsten herzhaft gewürgt. Verbunden mit der Frage: Wieso nur hast du uns verlassen?

Kanté ist kein Profi, der viel dribbelt, der Bälle aus 30 Metern ins Tor schießt oder Außenrist-Pässe schlägt, Kanté kann dafür etwas ganz anderes: Er kann eine Mannschaft verändern. Niemand gewinnt in der Premier League mehr Zweikämpfe als er, dabei arbeitet Kanté erst seit eineinhalb Jahren auf der Insel.

3:0 gewann Chelsea Mitte Januar in Leicester. Das Spiel erinnerte daran, wie groß der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstzufriedenheit sein kann. Die vorige Saison beendete Leicester 31 Punkte vor Chelsea, jetzt liegt der Meister 2016 fast 40 Punkte hinter dem Tabellenführer aus London. Im Vorjahr feierten die "Foxes" aus der 330 000-Einwohner-Stadt, versteckt in den Midlands zwischen Birmingham und Nottingham, eine Fußball-Sensation. "Champions of England, we know what we are", sangen die Fans. Triumphiert hatte ein Außenseiter, der in Wettbüros mit einer sagenhaften 5000:1- Quote in die Spielzeit gestartet war.

Und heute? Ohne den nur 1,69 Meter großen Kanté, den sie für 30 Millionen Pfund an Chelsea verloren? Nur ein Punkt trennt den Meister vom Abstiegsplatz. Und Sonntag muss Leicester ausgerechnet zu Swansea City, das unter Paul Clement, der jüngst noch Assistent von Carlo Ancelotti beim FC Bayern war, zwar ebenfalls akut gefährdet ist, aber jetzt wieder weiß, was auf dem Rasen zu tun ist.

"Ich will überleben", sagt Welttrainer Ranieri

Bei Ranieri und Leicester verhält es sich anders: Trainer und Mannschaft wirken so, als hätten sie alles verlernt. Dabei sind es - bis auf Kanté - die selben Spieler wie im Märchenjahr: Kasper Schmeichel im Tor, der Berliner Robert Huth neben Wes Morgan im Abwehrzentrum, der Österreicher Christian Fuchs mit Vergangenheit bei Schalke, der Japaner Shinji Okazaki mit Vergangenheit in Mainz, Riyad Mahrez, der Spieler des Jahres, Jamie Vardy, der Torjäger des Jahres. Alle sind geblieben, zum Teil zu klar verbesserten Bezügen, Leicester wollte sie nicht verlieren.

Gemeinsam haben sie verloren, was sie groß gemacht hat: Hingabe, Herz, Hunger nach Erfolg. Dass Leicester in der Champions League im Achtelfinale auf Sevilla trifft, ist leicht erklärt: International lockt der Reiz des Neuen, national haben sie die Herausforderung, dass jeder den Meister bezwingen will, nicht angenommen.

Das Ranieri-Kollektiv bröselt, es wirkt längst nicht mehr wie jene Gruppe, die in Nachbarschaft zu den Wäldern des Robin Hood auf einer Erfolgswelle surfte. Stattdessen sind derbe Kommentare zu ertragen: "Fäulnis macht sich breit", diagnostiziert der Guardian. Es ist wie so oft nach wundersamen Höhenflügen im Fußball: Geschichten dringen aus der Kabine, Grüppchenbildung wird ebenso wie Egomanie beklagt, und: Es heißt, der Trainer werde nicht mehr ernst genug genommen.

Vorige Saison konnte Ranieri seine Spieler noch mit der Aussicht auf eine simple Mahlzeit dazu stimulieren, konsequenter zu verteidigen. "Kommt Jungs", sagte er vor dem Spiel gegen Crystal Palace, "ich offeriere euch eine Pizza, wenn ihr kein Tor zulasst." Gewonnen wurde 1:0 - und anschließend viele weitere Male ohne Gegentor. Bis sie souverän Meister waren und sogar der Name des Klubbesitzers aus Thailand wie ein himmlisches Zeichen erschien. Srivaddhanaprabha - "Licht des fortschreitenden Glanzes". Dazu passte die Prämie, die der Milliardär, der unter anderem auf dem Flughafen Bangkok die Duty-Free-Läden betreibt, seinen Meisterspielern bescherte: Jeder bekam ein Luxusauto, 105 000 Pfund das Exemplar.

Ranieri, der freundliche Römer, erhielt gerade erst im Januar eine weitere Belobigung, als er zum Fifa-"Welttrainer des Jahres" ausgerufen wurde. Und nun? Haben die Buchmacher wieder ihre Quoten gemacht: Es gäbe nicht mehr viel Geld, sollte Ranieri nach nur zwei Siegen aus den jüngsten 15 Ligaspielen und vier Niederlagen mit 0:10 Toren entlassen werden.

Doch Ranieri, 65, hat zu viel erlebt, um sich durch das Szenario schrecken zu lassen. Leicester ist die 16. Station seines Trainerlebens, diverse Male hat er einen Arbeitsplatz vorzeitig verloren, in Valencia, bei Juventus Turin, bei Chelsea, beim Nationalteam von Griechenland. Als er im Sommer 2015 bei Leicester zur überraschenden Wahl wurde, fragte ihn Aiyawatt Srivaddhanaprabha, der Sohn des Präsidenten: "Falls wir absteigen, bleiben Sie dann trotzdem?" - "Ja", versprach er. Die Frage hatte damals Substanz: In der Saison zuvor hatte Leicester den Abstieg erst mit einem gewaltigen Kraftakt verhindert.

Nun sagt Ranieri: "Muss ich mich damit beschäftigen, mit dem Abstieg? Nein, ich kämpfe und will überleben." Noch hat er die Deckung des Präsidenten. Gerade erst hat dieser ihm in einer offiziellen Erklärung eine "standhafte Unterstützung" zugesichert.

© SZ vom 11.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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