Lehmann zählt die Tage bis zum Karriereende:Jeden Tag einen neuen Strich

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Torhüter Jens Lehmann ist vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Irland nicht weniger angespannt als während des Ausnahmezustands bei der WM.

Philipp Selldorf

Vielleicht lässt sich die Lage Jens Lehmanns ein wenig mit der Situation Marlon Brandos im Paten vergleichen. Jahrelang führte er diesen Kampf gegen seine Feinde und Dämonen, und als er sie endlich alle besiegt hatte, da trat eine große Leere und ein Gefühl von Erschlaffung in sein Leben.

Lehmann hat seinen Widersacher Oliver Kahn glücklicherweise nicht mit den Mitteln des Paten bekämpft, aber er hat ihn in einem zähen und erbarmungslosen Sportlerduell besiegt, nach einer zwei Jahre währenden öffentlichen Auseinandersetzung, die für alle Beteiligten Züge von Psychoterror aufwies.

"Der Druck in den letzten zwei Jahren hätte nicht größer sein können", sagt Lehmann im Rückblick auf eine "sehr, sehr stressige Zeit".

Aber er kann auch nicht leugnen, dass ihm nun, da Kahn nicht mehr zum Nationalteam kommt, der Herausforderer fehlt. Seinen Konkurrenten empfand er als "großen Wettkämpfer" und ständigen Ansporn, woraus sich ein irrer Wettstreit der Exzentriker entwickelte.

"Der Andere"

Ihr menschliches Verhältnis wurde dadurch aber nicht belastet - es gab ja überhaupt keins. Lehmann redete über Kahn wie über eine virtuelle Existenz, und Kahn bezeichnete Lehmann als "der Andere". Wenn Lehmann jetzt über seinen alten Rivalen spricht, dann nennt er ihn liebenswürdig "Oliver".

Seine persönlichen Dämonen lassen Lehmann aber auch jetzt nicht los, da nur noch Timo Hildebrand hinter ihm steht und der Bundestrainer ihn zum Stammtorwart bis zur EM erklärt hat. "Stammtorwart?", wendet Lehmann ein und protestiert: "Das gilt jetzt! Beim Irland-Spiel. Da muss ich es beweisen, und danach muss ich es auch beweisen."

Dass er beim Qualifikationsspiel gegen Irland ("eine richtig gute Mannschaft") hinter einer behelfsmäßig umformierten Abwehr das Tor hütet, macht ihm noch den geringsten Kummer. Die Zuverlässigkeit der beiden Friedrichs vor seiner Nase stellt er nicht in Frage, und die Aufgabe gegen die Iren ist schon deswegen ein Stück Alltag, weil er sämtliche Spieler aus der englischen Premier League kennt.

"Junge, isst du auch genug?"

Beobachtet man ihn aber dieser Tage beim Treffen in Stuttgart, fällt auf, dass er nicht weniger angestrengt aussieht als während des Ausnahmezustands bei der WM. Er ist bleich wie ein Nordengländer im Januar, und man möchte meinen, dass er schon wieder abgenommen hat.

Ein verbreiteter Eindruck, wie Lehmann berichtet: "Meine Mutter fragt mich auch jedes Mal, wenn sie mich sieht: 'Junge, isst du auch genug?' Weil sie immer denkt, ich sei dünner geworden." Doch sein Gewicht liegt seit Jahren konstant bei 87 Kilogramm, und von Anlass zur Besorgnis will Lehmann auch nichts hören, obwohl er neulich nach dem Länderspiel in Gelsenkirchen wegen eines Schwächeanfalls vom Krankenwagen abgeholt wurde.

Was Lehmann chronisch umtreibt ist seine angeborene Hochspannung, die auch nicht dadurch nachgelassen hat, dass er nun endlich die Anerkennung erfährt, die ihm all die Jahre in Kahns Schatten vorenthalten worden ist. "Entspannen tut sich's nie", sagt Lehmann seufzend.

Seiner Marter begegnet er zwar mit einem Stab von Spezialisten zur Stressbewältigung: den Amtspsychologen beim FC Arsenal und beim Nationalteam, einem Osteopathen in London.

Aber als Torwart bleibt er ein Gehetzter. "Der Nachteil ist: Man wird nicht jünger, ich muss immer mehr mit immer jüngeren Torleuten konkurrieren", erläutert Lehmann. Er hat das gleich nach der WM erlebt, als es plötzlich hieß, Arsenal wolle aus der Turiner Konkursmasse den italienischen Weltmeistertorwart Buffon verpflichten.

Leben wie ein Mönch

Nur ein Gerücht? Oder ein hinterhältiger Vorstoß seines Arbeitgebers? Lehmann hat lieber nicht nachgefragt: "Warum soll ich mich erkundigen? Ich denke mir: Es kommt, wie es kommt. Das ist eben meine mentale Strategie. Am Anfang des Jahres haben die Leute ja immer gesagt: Der weiß doch bestimmt schon, dass er bei der WM spielt. Aber so war es nicht. Ich war nur überzeugt, dass ich spielen kann."

Alles eine Frage der Selbstdisziplin. Mönchisch streng ist sein Profi-Leben strukturiert, immer noch geht er jeden Abend um zehn ins Bett, weil der Schlaf vor zwölf ja der gesündeste ist, und er legt keinen Einspruch ein, wenn man seiner Frau Conny Mitgefühl für ein manchmal eintöniges Leben ausspricht.

"Ich lebe sehr strikt, um dieses Niveau als Torwart halten zu können, das ist für meine Frau manchmal sehr nervig", erwidert er. "Aber sie darf sich nicht beklagen. Sie hat durch den Fußball viele besondere Dinge erlebt und viele besondere Menschen getroffen."

Tja, das Alter. Gelegentlich kommt sich Lehmann schon wie ein Profi-Opa vor. "Im Berufsleben bin ich ein junger Mann - aber im Fußballerleben ein alter Mann", sagt er.

Er weiß, dass seine Tage gezählt sind, er hat schon damit angefangen: "Mehr als 1400 Tage werden es nicht mehr werden, ungefähr drei Jahre, zehn Monate", rechnet er sofort vor: "Vier Jahre wären das Maximum, aber eigentlich plane ich nur noch bis zur EM. Das wären dann ungefähr 680 Tage." Häftlinge machen es übrigens ähnlich, wenn sie an der Zellenwand jeden Tag einen neuen Strich machen.

© SZ vom 2.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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