Kommentar:Zweifel im Zirkus

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Die Tour zieht ihre Faszination aus der Nahbarkeit. Doch das schafft auch ein seltsames Gefühl. Die Beobachter sind dicht dran an den Prota­gonisten - und der Gewissheit darüber so fern, welche Wahrheiten im Verborgenen bleiben.

Von Johannes Knuth

Wer verstehen will, woher ein Unternehmen wie die Tour de France in Zeiten des durchgeföhnten Kommerzsports seine Kraft zieht, muss einen Vormittag in einer Etappenstadt verbringen. Beim Start zum Beispiel, wenn alle Fahrer auf eine Bühne rollen, sich auf einer digitalen Anwesenheitsliste einschreiben, den Fans Wortspenden und ein paar hässliche Plüschtiere eines Sponsors zuwerfen. Die Anhänger bedanken sich artig bei allen Fahrern, auch bei Dauersieger Christopher Froome, selbst wenn ein paar dem Briten vielleicht heimlich einen Plattfuß wünschen, damit der junge Franzose Bardet gewinnt. Sie freuen sich mächtig, wenn Alberto Contador sich noch mal auf die Bühne schiebt; der Spanier bestreitet gerade vielleicht seine letzte Tour. Sie mögen ihn, trotz aller Sündenfälle im Lebenslauf. Oder gerade deshalb? Manche Fahrer rollen, nachdem sie sich für die Etappe eingeschrieben haben, noch durch das Village Depart, eine Zone mit Essensständen und Mitmachangeboten. Und ab und zu rollt ein Radprofi vorbei, der (fast) alle Autogrammwünsche erfüllt.

Das ist die große Stärke eines Sports, der seine Kraft vor allem aus seiner Nahbarkeit zieht. Und doch hinterlässt diese Nähe jedes Mal ein seltsames Gefühl.

Wenn es nach der Statistik geht, war diese 104. Tour de France ja nicht nur packend, bunt, ein karnevaleskes Chaos, aus dem jeden Tag Schmerzen, Stürze, aber auch schöne Bilder wuchsen. Sie war vor allem: sauber. Der Portugiese André Cardoso flog vor der Tour auf, dazu wurde ein älterer Dopingfall aus der deutschen Bora-Equipe bekannt. Und sonst? Alles gut, melden die Veranstalter. Viele Beobachter verwiesen zuletzt darauf, dass Chris Froome der erste Dauersieger der Tour ist, dessen Meriten durch einen biologischen Pass kontrolliert werden. Aber selbst wenn der Radsport sich tausendmal für geläutert erklärt, hinterlässt dieses Spektakel noch immer Zweifel. Weil noch immer belastete Personen im und ums Feld herum mitwirken. Weil die Dopingfahnder vielleicht aufholen, viele Tests wie der biologische Pass sich aber weiterhin umgehen lassen. Weil nach einem Jahrhundert dokumentierten Dopings ausgerechnet die angeblich saubere Generation so schnell fährt wie nie zuvor. Lässt sich das wirklich nur mit technischem Fortschritt, weicheren Matratzen im Hotel und nahrhafteren Müslis erklären?

So bleibt ein seltsames Gefühl. Weil die Beobachter den Protagonisten so nah sind - und doch der Gewissheit darüber so fern, welche Wahrheiten vielleicht sonst noch hinter den fröhlichen Bildern stecken.

© SZ vom 24.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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