Kommentar:Theorie und Gewalt

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Sepp Blatter nährt gern die Illusion eines reinen Sports, in dem es um Ideale geht, um Fairplay. Der Boss des Weltverbandes erzählt dann von der völkerverbindenden Kraft des Fußballs, obwohl er weiß, dass das Quatsch ist. Noch lieber geißelt Blatter Phänomene des Spiels wie Kommerz und Gewalt. Ersteres ist lächerlich, da sein Verband Wegbereiter des Kommerzes ist, das Zweite klingt hohl.

Christian Zaschke

So wie jetzt, da Blatter zu den Vorfällen in Istanbul sagt: "Da stimmt etwas im Fußball nicht. Das habe ich noch nie erlebt." Wirklich noch nie erlebt? Man müsste glauben, der Präsident kenne den Fußball besser. Es gibt solche Vorfälle immer wieder. Man denke an die deutsche U-21-Nationalelf, die sich vor genau zwei Jahren in Istanbul gegen die Türkei für die EM qualifizierte - nach dem Spiel wurden die Spieler von Polizisten und Ordnungskräften geschlagen und getreten.

Das Besondere an den neuen Zwischenfällen ist, dass sie so vorhersehbar waren. Der Schweizer Spieler Ludovic Magnin sagte: "Das war nicht anders zu erwarten." Im Fernsehstudio bemerkte Günter Netzer: "Das war bei uns früher auch immer so." Zum einen handelt es sich um ein spezifisches Problem im türkischen Fußball. Zum anderen zeigt sich der Kern des Problems überall: Im Moment der Niederlage suchen die Unterlegenen die Schuld überall, nur nicht bei sich.

Basteln an Verschwörungstheorien

In Bahrain wurde der Schiedsrichter unter Polizeischutz vom Platz gebracht, die Slowaken entwickelten umfassende Verschwörungstheorien. Am Mittwoch in Istanbul gesellte sich zur Theorie die Praxis, sprich: die Gewalt. Diese folgte der gezielten Anstachelung.

Insbesondere der türkische Trainer Fatih Terim hatte seit der Auslosung der Relegationsspiele keine Gelegenheit ausgelassen, an Verschwörungstheorien zu basteln. Im Fall des Sieges wäre er vielleicht sogar insgeheim wegen seiner Methoden bewundert worden. Nun, nach der Eskalation, sucht er die Schuld selbstverständlich bei anderen. Er fände sie bei sich selbst, weil er im Spiel mit der Emotion zu weit gegangen ist.

Die Niederlage gehört zum Fußball, aber die Niederlage wird häufig nicht mehr als Teil des Spiels akzeptiert. Bei der WM werden 31 Mannschaften verlieren, früher oder später. Zu einigen Verschwörungstheorien kommt es dann mit Sicherheit, zur Gewalt hoffentlich nicht.

© SZ vom 18.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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