Kommentar:Sinnloser Tornado

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Abgeklatscht: Trainer Niko Kovac (rechts) setzte Thomas Müller in den letzten Spielen auf die Bank. (Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Der Bayern-Trainer Niko Kovac hat sich mit seiner unbedachten Äußerung zu Thomas Müller ohne Not ein handfestes Problem ins Haus geholt. Die Luft fängt schon an, sich bedrohlich zu drehen.

Von Martin Schneider

Die große weite Welt ist oft sehr klein, alles hängt mit allem zusammen, und was in Chicago passiert, kann auch Auswirkungen auf München-Untergiesing/Harlaching haben. 1972 beschrieb der Meteorologe Edward N. Lorenz zum ersten Mal den Effekt, der im Nachhinein Schmetterlingseffekt genannt wurde, weil Lorenz zur Veranschaulichung seiner Gedanken erklärte, dass theoretisch ein Schmetterling in Brasilien mit den Flügeln schlägt und dann in Texas ein Tornado entsteht. Dieser Effekt stand von da an in Lehrbüchern als Phänomen der nicht linearen Dynamik in komplexen Systemen. Und damit zu Thomas Müller, der ebenfalls ein großes Phänomen nichtlinearer Dynamik ist - und zum FC Bayern München, einem zweifelsfrei komplexen System.

Um den Fußballer Müller hat sich noch kein ausgewachsener Tornado gebildet, aber die Luft fängt schon an, sich bedrohlich zu drehen. Sport-Bild titelte bereits, Müller wolle im Winter weg - und da stutzt der gesamte rot-weiße Teil Bayerns. Müller? Weg? Wohnt der nicht hier? Doch, tut er, schon immer, das ist es ja. Aufgewachsen am Ammersee, lebt mit Frau, zwei Hunden (Murmel und Micky) und Pferdehof im Münchner Umland - und Müller in einem anderen Trikot als dem des FC Bayern, das erscheint immer noch so wahrscheinlich wie eine gemeinsame Ankündigung der Wiesn-Wirte, das Oktoberfest demnächst auf dem Tempelhofer Feld in Berlin auszurichten.

Müller ist aktuell der letzte Bajuware beim FC Bayern, was gerade in diesen Tagen besonders auffällt, weil der Bajuware Bastian Schweinsteiger in Chicago seine Karriere beendet hat. Der FC Bayern veröffentlichte anlässlich dessen ein Bild von Schweinsteiger und schrieb dazu: "Für immer einer von uns." Und während man einem Vereinsheiligen derart huldigt, soll ein anderer im Winter flüchten?

Müller ist sauer, so viel ist sicher. Trainer Niko Kovac setzte ihn zuletzt auf die Bank, fünfmal nacheinander. Jüngst gegen Hoffenheim sogar ohne schlüssige Begründung, weil Kovac entgegen der üblichen Logik trotz harter Champions-League-Reise nicht rotierte und mit einer müden Stammelf 1:2 verlor. Selbst das wäre noch zu ertragen gewesen, aber dass er Müller vor dem Spiel öffentlich als Notnagel bezeichnete ("Wenn Not am Mann sein sollte, wird er mit Sicherheit auch seine Minuten bekommen") - das war dann ein Satz zu viel. Auch wenn Kovac erfolglos versuchte, die Formulierung später wieder einzufangen.

Der Bayern-Trainer hat sich jedenfalls ohne Not ein handfestes Problem ins Haus geholt. Wo Jupp Heynckes einst das herausragende Talent besaß, den Münchner Luxuskader so zu moderieren, dass jeder Spieler das Gefühl hatte, immer wichtig zu sein, kommen bei Kovac die Erschütterungen mittlerweile in schöner Regelmäßigkeit. Ist die Aufgabe für den Trainer einfach? Nein, gar nicht. Der teure Zugang Philippe Coutinho spielt auf derselben Position wie Müller, auf der Zehn im offensiven Mittelfeld, und wirklich schlecht spielt der Brasilianer nicht, um es vorsichtig auszudrücken. Weiß das Müller? Ja, dafür ist er lange genug dabei. Aber es ist ein Unterschied, ob man auf der Bank sitzt oder ob man auf der Bank sitzt und vom Trainer auch noch öffentlich angezählt wird. Zumal Müller überzeugte, wenn er eingewechselt wurde. Und zumal Kovac längst gemerkt haben müsste, welche Rolle der 30-Jährige im Bayern-Kosmos hat - spätestens als der Klub vor einem Jahr in einer offiziellen Mitteilung verkündete, dass Müllers Ehefrau Lisa sich für einen bissigen Instagram-Post bei Kovac entschuldigt habe.

Kovac hat aktuell zwei große Unterstützer beim FC Bayern: die Fans, die ihn mehrmals feierten und den Eindruck haben, dass da jemand trotz großer Widerstände versucht, seinen Weg zu gehen. Und den Noch-Präsidenten Uli Hoeneß, der auch nach seinem Abschied im November eine schwergewichtige Stimme im Klub sein wird und Kovac schätzt. Beide Parteien, Fans und Hoeneß, haben aber ebenso große Sympathien für Müller. Wenn wirklich die Situation eintreten sollte, dass sich beide Parteien für eine Seite entscheiden müssten - dann ist offen, wie es ausgeht. Ob Niko Kovac wirklich genug Kredit hat, um den Weggang des letzten Bajuwaren zu verantworten?

© SZ vom 10.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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