Kommentar:Nicht alles muss gigantisch sein

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Thomas Hahn ist Teilzeit-Rugby-Reporter und meistens Japan-Korrespondent. (Foto: oh)

Die Rugby-WM in Japan war in vielerlei Hinsicht lehrreich. Vor allem, weil das Spiel seine Bodenständigkeit bewahrt hat.

Von Thomas Hahn

Chefcoach Rassie Erasmus hatte keine große Geschichte im Kopf, als er Siya Kolisi von den Stormers aus Kapstadt im Mai 2018 zum Kapitän der Springboks machte. Aus seiner Sicht war Kolisi schlicht der beste Führungsspieler im südafrikanischen Klub-Rugby, ein Modellathlet mit natürlicher Autorität, entscheidungsfreudig, vielseitig einsetzbar. Erasmus hielt auch keine langen Reden. Er übergab Kolisi die Kapitänswürde, der nahm die Aufgabe an, fertig. "Das war ein Ding aus dem Augenblick heraus", hat Erasmus vor dem WM-Finale gegen England an diesem Samstag in Yokohama gesagt. Erst später fiel ihm auf, wie bedeutsam seine Wahl für viele im Land war. Im früheren Apartheidsstaat Südafrika hatte er, der weiße Coach Erasmus, zum ersten Mal einen schwarzen Mann zum Kapitän des Rugby-Nationalteams ernannt.

So funktioniert eine Gleichstellungsgesellschaft: Indem sie nicht um des Zeichens willen Zeichen setzt, sondern indem sie Menschen sachlich nach ihren Talenten bewertet. Der Sport kann in dieser Hinsicht großartige Dinge bewirken, weil er das Ergebnis über die Frage stellt, welche Hautfarbe jemand hat, welche sexuelle Neigung oder welche Religion. Gerade die Rugby-WM in Japan, die am Samstag nach sechs Wochen endet, hat daran erinnert. Und zwar nicht nur, weil das Leistungsprinzip des Trainers Erasmus einen schwarzen Flanker ins Kapitänsamt des Finalisten Südafrika gespült hat.

Sondern auch, weil das Heimpublikum eine japanische Mannschaft bejubeln konnte, die ihre Viertelfinalteilnahme sicher nicht ohne Zuwanderer hätte erreichen können. Für einen Inselstaat, dessen Regierung trotz Arbeitskräftemangel eher zögerlich Ausländer ins Land lässt, ist das eine kraftvolle Botschaft. Selbst der gescheiterte Titelverteidiger und WM-Dritte aus dem Einwandererland Neuseeland hat wieder gezeigt, dass modernes Nationaldenken heutzutage viel mit Toleranz zu tun hat. Neuseeländische Europäer, Maori, Polynesier und Muslime bildeten das Team. Sie tanzten zusammen, siegten zusammen, verloren zusammen. Vor einem großen Ziel verschwinden äußerliche Unterschiede.

Es war eine lehrreiche WM. Sie hat bezeugt, dass nicht alles immer gigantisch sein muss. Das WM-Stadion der verblassten Rugby-Hochburg Kamaishi im Tsunami-Gebiet der Präfektur Iwate fasste nur wegen Stahlrohrtribünen 16 000 Zuschauer. Der Fußballweltverband Fifa würde sich bestimmt nie dazu herablassen, sein kostbares WM-Spielgerät durch eine provisorische Provinzarena rollen zu lassen. Der Verband World Rugby hat das gemacht, er behält sein Spiel dadurch auf dem Boden der Tatsachen - und bei den Leuten, denen es etwas bedeutet.

Ob er das auf Dauer durchhält? Oder auch irgendwann in Doha bei 50 Grad im Schatten spielen lässt? Eine Sportinstitution wie das Internationale Olympische Komitee hat ja auch mal bescheidener angefangen. Heute sucht das IOC nach den attraktivsten Timeslots für den Übertragungsrechte-Verkauf und verheddert sich dann in seinen eigenen Plänen. Die Posse um den Olympia-Marathon 2020 ist das beste Beispiel dafür: Das IOC hat ihn mittlerweile aus Tokios gefährlicher Sommerschwüle ins kühlere Sapporo verlegt - allerdings ohne vorher mit Tokios Regierung zu sprechen. Gouverneurin Yuriko Koike lenkt ein, ist aber sauer, weil es doch schon einen tollen neuen Anti-Hitze-Plan gab: Startzeiten nachts um drei.

Deutlicher kann man kaum sagen, dass einem die Menschen des Sports egal sind. Dabei sind sie es doch, die ihm eine tiefere Bedeutung geben. Menschen wie der Rugby-Kapitän Siya Kolisi, der im ärmlichen Township von Zwide aufwuchs und sich bis ins WM-Finale kämpfte. Und jetzt eine Symbolfigur ist, weil er das Vertrauen bekommt, das er verdient.

© SZ vom 02.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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