Kommentar:Knapp verlieren reicht auch

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Der Trend der EM: Es fallen weniger Tore. Im modernen Fußball ist kreatives Angreifen eben schwieriger als solides Verteidigen.

Von Claudio Catuogno

Die alte Fußballreporterregel "Ein Tor würde dem Spiel gut tun" hat natürlich weiterhin ihre Gültigkeit, spätestens nach 35 Minuten darf sie lässig in den Raum geworfen werden, und dann noch einmal kurz vor der Halbzeit, zum "psychologisch wichtigen Zeitpunkt". Allein: Die Mannschaften halten sich nicht mehr daran. Nicht bei dieser Fußball-EM, bei der man sich jetzt, da die Vorrunde beendet ist, nicht nur an einen neuen Modus und an neue Gesichter gewöhnen muss - sondern auch an eine neue Entwicklung: Es fallen weniger Tore als früher. Warum ist das so?

Wenn man ein bisschen zuspitzt, ist auch für diesen Trend Michel Platini verantwortlich, der inzwischen (aus anderen Gründen) suspendierte Uefa-Präsident, der das Turnier so aufgestockt hat, dass jetzt auch Gruppendritte in die K.o.-Runde kommen. Vielleicht hat die neue Ausgangslage niemand so anschaulich auf den Punkt gebracht wie Michael O'Neill, der Trainer der Nordiren, nach dem 0:1 gegen die Deutschen: "Meine Aufgabe ist es ja nicht dafür zu sorgen, dass Joachim Löw 7:0 gegen uns gewinnt." Das war zwar auch im alten Format nicht die Aufgabe der Trainer - aber es gab damals noch Anlass, es manchmal zumindest in Kauf zu nehmen.

Ein Pass in 88 Minuten - vielen Teams fehlen die Automatismen

Das neue Format hält alle Mannschaften länger im Wettbewerb, im Fall der Nordiren bedeutete das, dass sie auch nach Mario Gomez' 1:0 nicht um jeden Preis ein Unentschieden erreichen mussten. Sie durften nur nicht zu hoch verlieren. Also mauerten sie weiter. Nun stehen sie tatsächlich im Achtelfinale.

Die Frage ist aber, ob man Platini den Tormangel jetzt so garstig vorwerfen muss, wie man ihm andere Mängel unbedingt vorwerfen muss. Niemand wird ja behaupten, dass das Turnier nicht schon ein paar andere schöne Dinge hervorgebracht hat: singende Iren, stolze Isländer; so bunt wie jetzt in Frankreich war die EM noch nie. Man darf schon der Meinung sein, dass es dem europäischen Fußball nicht schadet, wenn er alle vier Jahre seine bunte Vielfalt zum Wettspielen versammelt, und nicht immer nur die gleichen Eliten. Die Tore werden schon noch kommen, wenn jetzt am Samstag die Achtelfinals beginnen.

Und es wäre auch zu einfach, alles nur darauf zu schieben, dass Unentschieden und knappe Niederlagen inzwischen mehr wert sind als früher. Dass jetzt mehr sogenannte "Kleine" dabei sind, führt auch aus anderen Gründen dazu, dass mehr verteidigt wird. Im modernen Kollektivfußball ist kreatives Angreifen viel schwieriger als solides Abwehrspiel. Dass sich vier der fünf Neulinge mit den Basistugenden durchgesetzt haben, nicht mit furiosem Offensivgeist, ist auch ein Signal an manche etablierte Elf, ihre Methoden zu überdenken.

In den Champions-League-Klubs werden komplexe Angriffsmechanismen zum Teil über Jahre entwickelt, einstudiert und verfeinert. Der überraschende Laufweg, der raumöffnende Pass in der richtigen Sekunde - auch Deutschen, Franzosen oder Engländern fehlen da noch die Automatismen. So hat zum Beispiel der Rechtsverteidiger der Franzosen, Bacary Sagna von Manchester City, in den 88 Minuten, die die beiden gegen Rumänien und Albanien gemeinsam auf dem Platz standen, genau einen Pass auf den vor ihm postierten Flügelstürmer Antoine Griezmann von Atlético Madrid gespielt. Einen! Die beiden kennen sich de facto gar nicht. Im Achtelfinale dürften es ein paar Pässe mehr werden, und dass daraus Tore entstehen, ist dann nur eine Frage der Zeit. Lang genug dauert diese neue EM ja in jedem Fall.

© SZ vom 24.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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