Kommentar:Klinsmanns Psycho-Magie

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Warum der Bundestrainer zwar sein Ziel nicht erreicht hat, aber dennoch unbedingt bleiben sollte.

Philipp Selldorf

Jürgen Klinsmann ist gescheitert. Seinen Anspruch, die deutsche Mannschaft zum Weltmeistertitel zu führen, hat er nicht erfüllt. Bei der Niederlage gegen Italien wurde zudem ein deutscher Komplex bestätigt, den auch Klinsmann nicht hat kurieren können: Wieder war die Nationalelf unfähig, einen großen Gegner zu schlagen.

Jürgen Klinsmann tröstet Bastian Schweinsteiger nach der Niederlage gegen Italien im Halbfinale. (Foto: Foto: ddp)

Die schwarze Serie geht also weiter; seit sechs Jahren wartet man nun schon auf einen Sieg gegen eine der klassischen Fußballnationen. Schließlich war der Erfolg gegen Argentinien im Viertelfinale nur ein Triumph der besseren Elfmeterzocker, das Spiel endete Remis. Auch der wundertätige Reformator Klinsmann hat also den Niedergang nicht wenden können.

Soweit die Version der notorisch Desillusionierten und ewig Verbitterten. Ihre Anzahl hat allerdings in den vergangenen Wochen so abgenommen, dass man überlegen sollte, sie unter Artenschutz zu stellen. Schon aus kulturhistorischen Gründen wäre es schade um jene Spezies, die einmal einen stattlichen Anteil, wenn nicht gar die Mehrheit der deutschen Fußballbetrachter ausmachte.

Mit Fantasie und Leben

Folgt man aber den jüngsten Stimmungsbildern und den Kommentaren auf den Straßen und in der Presse, dann hat sich das Publikum in Deutschland binnen vier Wochen verwandelt und vereint: Radikale Idealisten und gemäßigte Realisten bilden nun eine große Koalition.

Das ist das Verdienst von Jürgen Klinsmann und seinem Kabinett. Der Bundestrainer hat mit seinem Stab und seinen Fußballern Erstaunliches geleistet. Sie haben ein großes Turnier gespielt. Die deutsche Mannschaft hat durch ihre Auftritte begeistert wie seit dem Titelgewinn 1990 nicht mehr.

Sie hatte ein klares Programm für ihr Spiel, und sie arbeitete es nicht pflichtgemäß ab, sondern erfüllte es mit Fantasie und Leben. Spieler wie Klose, Lahm und Ballack waren die Stars des Turniers, während Genies wie Ronaldinho oder Rooney ohne Ausdrucksnoten blieben. Klinsmann und sein Chefberater Joachim Löw erwiesen sich bei der Personalwahl als erfindungsreich und bei der Strategiefindung als klug und flexibel.

Aura des Selbstvertrauens

Wer hätte das vorher geglaubt? Im Ausland hatte man zwar gewohnheitsmäßig Ehrfurcht vor den Deutschen und ihrem unheimlichen Talent als Turniermannschaft. Aber daheim galt die Auswahl aus der international nicht erstklassigen Bundesliga als Außenseiter; sehn- und eifersüchtig richtete sich der Blick auf jene Teams, deren Stars in den Elite-Ligen in England, Spanien und Italien und bei Superklubs wie FC Barcelona, FC Chelsea oder AC Mailand beschäftigt sind.

Damit seine Leute nicht ebenfalls von diesem Kleinmut erfasst wurden, verlegte sich Klinsmann auf Suggestion. Von Anfang an indoktrinierte er seine Spieler mit Optimismus und Überzeugung, bis sich wirkliches Selbstvertrauen und eine wahrnehmbare Aura entwickelten. Auch das Publikum bezog er in diese Psycho-Magie ein.

Beinahe hätte die Mannschaft dank "diesem über allem stehenden Glauben" (so die englische Zeitung Independent) ihr Ziel erreicht. Aber die Psychologie ist eben doch nur ein Teil des Spiels. Klinsmann hat das zwar perfekt ausgereizt und zaghafte, unstete Fußballer binnen weniger Wochen in selbstsichere, resolute Wettkämpfer verwandelt. Doch entscheidend bleibt immer noch, ob die Abwehr fehlerlos spielt.

Vibrationen im Untergrund

Das Turnier ist durch die Niederlage der deutschen Elf noch nicht vorbei, es erlebt nun aber den unvermeidlichen emotionalen Druckabfall. Mal sehen, ob sich jetzt die vorübergehend vaterländisch vereinte Nation wieder zerstreut und der "positive Patriotismus" (Oliver Bierhoff) nur eine Sommerlaune war. Zunächst jedoch gilt es, ganz profan den Abschiedsschmerz zu kurieren, das Ende einer WM zu verkraften, die für Wochen der Lebensinhalt von Millionen Deutschen war.

Den Leidenden sei gesagt: Es gibt ein Leben nach der WM. Es vibriert bereits im Untergrund, spielt sich allerdings in Bielefeld bei der Arminia und in Aachen bei Alemannia ab, im Fußballalltag also. In weniger als fünf Wochen beginnt die 44. Bundesliga-Saison. Wer wird Meister? Man sagt, Bayern München solle gute Chancen haben.

Nein, ganz so banal darf es nicht zu Ende gehen. Aus diesem Sommer und der wundersamen Auferstehung der Nationalelf sollten die Akteure im deutschen Fußball ihre Lehren ziehen. Eine dieser Lehren muss wohl sein, dass Klinsmanns Denkschule nicht gleich wieder geschlossen werden darf.

Fragiler Fortschritt

Nicht alles, was punktgenau für das Turnier geschaffen wurde, lässt sich dauerhaft in die Post-WM-Zeit übertragen. Aber vieles, von der offensiven Orientierung des Spiels bis zur Individualisierung des Trainings, von der Kommunikation bis zur persönlichkeitsstiftenden Pädagogik, könnte auch in der Bundesliga nützlich sein.

Vor dem Viertelfinale hatte Klinsmann noch Sorge um sein Erbe geäußert. Eine Niederlage werde "reaktionäre Kräfte" auf den Plan rufen, der Fortschritt - sein Fortschritt! - sei "noch zerbrechlich". Das kann stimmen. Aber Klinsmann könnte dagegen selbst etwas unternehmen, indem er sich nicht wieder ins Privatleben nach Kalifornien zurückzieht, sondern das Werk fortsetzt.

Klinsmann hat durch seine erfolgreiche Arbeit bewiesen, was sich im deutschen Fußball bewegen lässt. Daraus ergibt sich für ihn aber auch Verantwortung. Schließlich hat er ein Versprechen gegeben, das noch einzulösen ist.

© SZ vom 5.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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