Kommentar:Katastrophentourismus unterm Bayerkreuz

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Bayer 04 Leverkusen ist eine feste Größe in der Bundesliga - dieser Anspruch wird der heillos überforderten Mannschaft zum Verhängnis.

Von Milan Pavlovic

Die Ausgangslage war klar: Bayer Leverkusen, dieses mit Stars und Talenten, Nationalspielern und verdienten Routiniers gespickte Team, musste gegen Schalke 04 gewinnen, sonst würde es im Kampf um den Klassenverbleib unangenehm werden. Man sah, wie viel sich die Elf vorgenommen hatte, aber es reichte nicht - die Nervosität war noch größer als der Wille. Am Ende hatte die Partie etwas Peinliches, mit dem 1:3 war Leverkusen noch gut bedient, der Rückstand auf den rettenden 15. Platz war an diesem Ostersonntag des Jahres 2003 dennoch auf drei Punkte angewachsen. Im Kader von Bayer 04 standen damals Profis mit klingenden Namen wie Butt, Juan und Lúcio, Schneider, Berbatov, Kirsten und Neuville. Doch im Abstiegskampf wirkten sie hibbelig wie halbstarke Jungs vor dem ersten Date.

14 Jahre später findet sich der Klub nach einer 1:4-Niederlage gegen Schalke in einer vergleichbaren Situation wieder - und erst wenn man die Aussage "Bayer im Abstiegskampf" überdenkt, kommt man darauf, wie ungewohnt die Situation ist. In den vergangenen 30 Jahren stand der Klub am Saisonende nur zweimal schlechter als Platz neun (1996 rettete man sich zehn Minuten vor Saisonende); 19-Mal war er dagegen Fünfter oder besser, davon fünfmal Zweiter. Bayer 04 ist zu einer festen Größe geworden, wie sie langjährige Rivalen wie der VfB Stuttgart, der 1. FC Nürnberg oder der 1. FC Kaiserslautern längst nicht mehr sind. In der ewigen Bundesliga-Tabelle steht Leverkusen nach 37 Jahren dem Punkte-Durchschnitt pro Bundesliga-Spiel zufolge auf dem dritten Platz hinter dem FC Bayern und Dortmund.

Man hat das Gefühl, dass sich selbst die eigenen Fans langweilen

Trotzdem sind die Meisten mit der Mutter aller Plastikklubs nie richtig warm geworden. Und seitdem der Verein vor ein paar Jahren die hämischen Begriffe vom "Werksklub" und "Vizekusen" clever als Eigenwerbung annektiert hat und noch umstrittenere Konkurrenten wie Wolfsburg, Hoffenheim und Leipzig aufgekommen sind, hat Leverkusen in der Rangliste der am wenigsten geschätzten Vereine einige Plätze verloren. Die Gefahr, die sich daraus ergibt, ist, dass der Klub langweilt, was womöglich noch schlimmer ist als Ablehnung. In dieser turbulenten Saison hat man oft das Gefühl, dass sogar die eigenen Fans gelangweilt sind - selbst beim Heimspiel gegen Bayern München vor zwei Wochen blieben auffallend viele Tribünenpläne unbesetzt.

Wahrscheinlich auch deshalb, weil Leverkusens Saison nur insofern spektakulär ist, dass sie beim Zuschauer oft den Eindruck des Katstrophentourismus hinterlässt. Einige Klubs (Schalke 04, Wolfsburg) liefern schlechte Spielzeiten ab - aber keiner bleibt so weit vom erwarteten Niveau und dem eigenen Anspruch entfernt wie Bayer 04. Das hat viele Gründe, von denen längst nicht alle mit Pech zu tun haben (die fragwürdige Sperre gegen Hakan Calhanoglu) oder mit Verletzungssorgen (Lars Bender).

Fatale Mixtur aus Selbstüberschätzung und Formschwäche

Es ist vielmehr eine fatale Mixtur aus Selbstüberschätzung, die dazu führte, dass bis vor kurzem hartnäckig vom Europacup die Rede war; der Formschwäche einiger Leistungsträger (Bellarabi, Brandt) sowie der Tatsache, dass deutlich zu lange am streitbaren Trainer Roger Schmidt festgehalten wurde. Sein Nachfolger Tayfun Korkut vermittelt den Eindruck eines Kindes, das so begeistert von den Möglichkeiten seiner neuen Spielzeug-Eisenbahn ist, dass es gar nicht weiß, welche Weiche es zuerst umschalten soll.

Vielleicht ist es für die Leverkusener auch nicht gut, dass sie in der Tabelle noch nicht so schlecht stehen, wie sie seit Wochen spielen. Denn es ist ja die Realität: Die Konkurrenten heißen jetzt Ingolstadt und Augsburg und Hamburg; Klubs, für die Abstiegskampf Alltag ist. Ehe der Werksklub begreift, was diesen Alltag ausmacht, könnte er den HSV nach unten überholt haben.

© SZ vom 30.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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