Kommentar:Jan Ullrich, klagen Sie!

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Lance Armstrong gedopt - gibt es eine Nachricht im Sport, die weniger überraschen darf? Jedenfalls keinen nüchternen Beobachter dieses Luft- und Muskelzirkus, in dem die Standardantwort fast eines jeden Akrobaten auf die Frage, ob er dope, so lautet: "Ich wurde nie positiv getestet."

Thomas Kistner

Für den Besten der Besten gilt selbst dies entlarvende Sprüchlein nicht mehr, neu ist auch das nicht: Eine Cortison-Panne bei einem Tour-Test hat er schon mal ausgesessen. Dass das problemlos ging und überhaupt den Akteuren dieser pharmaverseuchten Disziplin immer noch eine bizarre, höchst vernunftswidrige Glaubwürdigkeit zugestanden wird, liegt im politischen System: Der Radsport müsste sich selbst zur Bedeutungslosigkeit reduzieren, würde er die chemische Basis angreifen, auf der seine aberwitzigen Leistungen gedeihen.

Für wen sind all die Mittelchen?

Rollt die Karawane, rollt auch der Rubel für Verbände und Offizielle. Punkt. Und fliegt mal einer auf, dann in der Regel nur, weil er staatlichen Ermittlern ins Netz gegangen ist. Wie bei der legendären Tour de France 1998, bei der die französische Polizei säckeweise Dopingmittel konfiszierte und die für 60 Personen (Fahrer, Betreuer, Ärzte) mit Strafprozessen endete - bei der es aber nicht einen positiven Dopingfall gab. Hoppla. Für wen schleppen die fleißigen Kerle all die Mittelchen herum, die ja auch bei Vuelta oder Giro öfter mal beschlagnahmt werden? Für kranke Anverwandte: Im Fall des Tour-Dritten 1993, Raimondas Rumsas, war's die Schwiegermutti. Trotzdem sitzt Rumsas jetzt in Haft und wartet auf den Prozess.

Zerstört werden kann der Mythos Armstrong sowieso nur für die Gutgläubigsten, egal, welche Folgen die Funde von Paris haben werden. Blieben Untersuchungen aus, wäre dies aber ein Tiefschlag für die Betrugsbekämpfung; nicht nur der Kölner Laborchef Schänzer fordert, dass eindeutige Resultate auch sanktioniert gehören. Für die Weltantidoping-Agentur Wada wird der Fall so zum Härtetest.

Es gibt ja, im Zeichen der "Null-Dopingtoleranz"-Politik des Internationalen Olympischen Komitees, einen wichtigen Paradigmenwechsel in der Sanktionspraxis: Es gibt schon Verurteilungen ohne Positivbefund, es gibt sportethisch begründete Strafen wie die gegen Langläufer Mühlegg, der bei den Winterspielen von Salt Lake City einmal positiv getestet wurde, aber alle drei Goldmedaillen verlor. Im Fall des Platzhirsches Armstrong wäre so ein Richterspruch nicht nur weise, er wäre von überragender Bedeutung.

Und der Radsport? Gerät jetzt erst recht in Generalverdacht. Den letzten Beleg dafür werden die Profis selbst liefern, indem sie den Mann, dem sie all die Jahre hinterhergestrampelt sind, nicht anprangern. So ein Verhalten kennt man nur aus den dunkelsten Kreisen der Gesellschaft: Warum lässt einer, der mit anständiger, beinharter Arbeit sein Geld verdient, sich von Betrügern um die Früchte aller Fron bringen? Jan Ullrich, protestieren Sie! Klagen Sie - auf Verdienste, die Ihnen und allen Nichtbetrügern zustehen...

(SZ vom 24.8.2005)

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