Kommentar:Foulspiel am Publikum

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Erst nach der WM wird sich zeigen, wie erfolgreich das Fifa-Kartensystem war. Noch haben erst wenige gemerkt, dass sie für dumm verkauft wurden.

Thomas Kistner

Früher, als im sportseligen Lateinamerika die Juntas wüteten, erhielt der Fußball ein neues Etikett: Opium fürs Volk. Er war die Substanz, mit der das Volk bei Laune gehalten wurde, die Heimkehr der Weltmeister um Pele 1970 in die offenen Arme General Medicis oder die WM der Militärs in Argentinien stehen dafür unauslöschlich.

Die Juntas und ihre Umtriebe sind Vergangenheit. Die Kraft des Fußballs aber wirkt berauschender denn je und legt weiter die Versuchung nahe, Unpopuläres durchzuboxen, wenn die Masse feiert.

Wir sind beschäftigt

Es wird nach der WM beißende Rückblicke geben auf diese Zeit, als die größte Steuererhöhung aller Zeiten verfügt wurde, während glückstrunkene Menschen schwarzrotgoldene Fähnlein durchs Land schwenkten. Aber jetzt? Später, wir sind beschäftigt.

Das bleibt das unschlagbare Erfolgsprinzip von Massenevents - die größten heißen WM und Olympia. Wie der Politik im Großen, kommt die öffentliche Betäubung den Regenten dieser Volkspartys im Kleinen entgegen. Was gab es Klagen wegen des Ticketsystems, die Personalisierung der Karten gilt als Staatsschutzprinzip: Ohne geht nicht, wer's trotzdem riskiert, wird böse scheitern.

Nun läuft die WM, die Stadien sind voll. Das ist erfreulich, wobei außer Frage steht, dass eine WM in diesen Zeiten stets ausverkauft sein wird, auch wenn sie 100 statt 64 Spiele hätte und fast egal, wo sie stattfindet.

Im Schicksal ergeben

Bei dieser WM aber findet grobes Foulspiel am Publikum statt. Was nur nicht auffällt, weil sich viele Fans in ihr Schicksal ergeben haben. Sie folgten getreulich den offiziellen Wegen, surften zäh im Internet und jubelten, wenn sie überhaupt Karten für irgendwas ergatterten, sie ertragen Schlange stehend den Personalisierungswahn - um festzustellen, dass sie die Trottel sind. Weil es keine effektiven Kontrollen gibt, und dafür das, was ja zu verhindern war: blühende Schwarzmärkte.

Es ist ein Gefühl der Ohnmacht für alle, die sich an Spielregeln halten. Aber die Veranstalter schützt zweierlei: eine alles plättende Hurra-Stimmung im Land sowie die beruhigende Tatsache, dass sich Hunderttausende, die nicht oder unter sinnlos verschärften Bedingungen zum Zuge kamen, nicht wehren werden. Denn diese Masse setzt sich aus Einzelnen zusammen, und der Einzelne ist chancenlos.

Das Personalisierungskonzept ist gescheitert, daran besteht so wenig Zweifel wie daran, dass es bis zum Finale durchgezogen wird. Man will sich keine Blöße geben, obwohl ständig Leute mit den Daten von Kleinkindern oder des anderen Geschlechts die WM-Ränge bevölkern.

Der deutsche Regulierungswahn steht also nicht weit zurück hinter dem der Fifa. Gäbe es nicht die Betrogenen, wäre das Scheitern des Konzepts zu begrüßen: Wichtig ist ja nicht, wer ins Stadion gelangt, sondern was er dorthin mitbringt.

Wer sich gutgläubig für die falsche Seite des Systems entschieden hat, kann nur auf Hilfe anderer hoffen, die sich geprellt fühlen: Viele Firmen, die ein katastrophales VIP-Programm beklagen - und das auch vor Gericht tun wollen.

Am Schicksal der Hospitality-Agentur ISE, eine Art Amigo-Connection der Fifa, dürfte sich zeigen, wie großartig das "erfolgreichste Programm aller Zeiten" in Deutschland war. Wenn das Opium verraucht ist.

© SZ vom 21.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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