Kommentar:Ein einziges Experiment

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Quo vadis Nationalmannschaft? Der Offenbarungseid gegen die Türkei läßt die Hoffnung für die WM im eigenen Land schwinden. Die Nationalspieler sind nicht in Form, die Bundesligasaison ist träge und Lincoln, Ismaël und Ailton helfen uns auch nicht.

Philipp Selldorf

Sollte man vielleicht doch noch mal über das Angebot der ausländischen Bundesligaprofis Lincoln, Ailton und Valérien Ismaël nachdenken, zum Zweck der fußballerischen Entwicklungshilfe die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen?

Enttäuschten in Istanbul: Bernd Schneider, Per Mertesacker und Thomas Hitzlsperger (Foto: Foto: DPA)

Das erschreckende Spiel am Samstagabend in Istanbul lieferte dazu ein Plädoyer: Ismaël könnte die Deckung festigen, die sich derzeit von jedem Gegner im Handstreich überwinden lässt; Lincoln könnte die eklatant fehlende Verbindung zwischen Mittelfeld und Sturm herstellen; und Ailton die Gefahr in vorderster Linie schaffen, die der Angriff vermissen lässt, solange nicht Podolski ein Solo startet.

Natürlich ist das nichts als ein Gedankenspiel fern jeder Realität, doch bleibt es eine Sehnsuchtsvorstellung mit wirklichem Hintergrund - noch eine Fußball-WM in Deutschland werden wir schließlich, wie Franz Beckenbauer richtig und immer wieder sagt, in den kommenden 50 Jahren nicht mehr genießen dürfen.

Grassierende Formschwäche

Aber was heißt genießen? Jürgen Klinsmann hat mit seiner Besetzung eine Auswahl getroffen, die nicht viele Wünsche offen lässt. Anderweitige Varianten drängen sich nicht zwingend auf, obwohl sich für die gewissermaßen schon verstoßenen altvorderen Kandidaten Wörns und Hamann wieder einige Argumente ergeben haben.

Vieles liegt im Argen acht Monate vor dem WM-Start, man weiß gar nicht mehr genau, wo man anfangen soll. Vielleicht beim Konföderationen-Pokal im Juni? Dort standen Klinsmann und seine Mannschaft so sehr unter Bestätigungsdruck, dass sie dafür ihre letzten Energien geopfert haben. Jetzt bezahlen sie den Preis, was zum einen in der grassierenden Formschwäche der Nationalspieler und zum anderen in der auffallend träge gestarteten Bundesligasaison Ausdruck findet.

Missionar Klinsmann

Klinsmanns missionarisch vorgebrachte Order an seine Spieler, ständig am körperlichen und geistigen Fortschritt zu arbeiten, lässt keinen Effekt erkennen. Im Gegenteil bedarf es mehr denn je therapeutischer Betreuung, um spielerische und moralische Grundlagen zu vermitteln.

Es ist ja auch nicht wahr, dass nun mit dem Vorsatz, in den paar verbleibenden Testpartien eine Elf einzuspielen, die Zeit der Experimente beendet wäre. Wahr ist vielmehr, dass der Einsatz von Spielern wie Jansen (oder, eines nicht mehr fernen Tages, des Langzeitpatienten Lahm) und Sinkiewicz zwangsläufig ein einziges Experiment bedeuten.

Keine Ausreden

Kein Vorwurf: Es gibt im Grunde dazu keine Alternative. Nur wird das um so mehr zum Risiko, wenn alte Größen wie Frings oder Schneider und Hoffnungen wie Borowski und Schweinsteiger so daneben liegen wie am vergangenen Samstag.

Der Versuch, sich mit der vermeintlich besseren zweiten Halbzeit zu trösten, bleibt leider ebenfalls ein Selbstbetrug. Dazu hätte es mehr bedurft als verbesserter Gefahrenabwehr gegen zwangsläufig in den Schongang wechselnde Türken. Wenn Klinsmann wirklich die Eigenverantwortung seiner Spieler stärken will, dann lässt er diese Ausrede nicht zu. Zumal Hilfe von außen nicht zu erwarten ist - weder von Lincoln, Ailton noch Ismaël.

© SZ vom 10.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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