Kommentar:Ehrenwerte Familienmitglieder

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Das Internationale Olympische Komitee misst wieder mal mit verschiedenen Maßstäben, wenn es die Autonomie des Sports verteidigt. In Italien sieht es die erstaunlicherweise eher gefährdet als in Belarus.

Von Thomas Kistner

In Weißrussland, wo die Menschen immer heftiger gegen das Regime von Alexander Lukaschenko protestieren, hat der Sport nun eine originelle Personalentscheidung getroffen. Iwan Tichon, 44, wird neuer Chef des nationalen Leichtathletik-Verbandes (BFLA). Ein Mann, der sich nicht nur als Hammerwerfer der Weltklasse einen Namen gemacht hat - er zählt auch zu den größten Dopingsündern im olympischen Kernsport. Tichon wurde rund die Hälfte seiner Erfolge aberkannt, immer wieder überführten ihn die Nachtests als Betrüger. Wegen Testosteron-Missbrauchs verlor er unter anderem den WM-Titel 2005 sowie das EM-Gold 2006, die Silbermedaille bei Olympia 2004 büßte er zur Abwechslung wegen Steroid-Dopings ein.

Nun steigen sogar Funktionäre auf die Barrikaden. Eine Sprecherin des Leichtathletik-Weltverbandes sagte dem Branchendienst insidethegames, zumindest bei World Athletics könne "heute niemand mehr, der eine Dopingstrafe hatte, ein Amt bekleiden". In Belarus schon. Das gilt ohnehin als Risikoland erster Güte für Dopingmissbrauch; gemeinsam mit Äthiopien, Kenia und der Ukraine.

Sportsfreund Tichon wurde auch Bronze bei Olympia 2008 aberkannt, wieder mal war er als Testosteron-Doper aufgeflogen, doch der berüchtigte Sportgerichtshof Cas hob diese Sperre auf: Laborpanne in China. Zwar vermasselten ihm dann positive Tests den Start in London 2012, aber bei den Spielen in Rio de Janeiro 2016 durfte Tichon wieder ran - und gewann die Silbermedaille. Trotz des neuen BFLA-Spitzenamtes, heißt es jetzt, wolle er auch in Tokio 2021 starten.

Wie es zu dieser absurden Berufung kam? Der Präsident des weißrussischen Olympiakomitees ist Lukaschenko. Und wie im Lande, greift der Despot im Sport durch, hart und ganz nach Belieben. Das offenbart das Schicksal von Tichons Vorgänger. Vadim Deviyatovskiy, 43, früher ebenfalls ein dopinggestählter Hammerwerfer der Weltspitze, war überraschend "aus Gesundheitsgründen" zurückgetreten. Welches Malheur da genau vorliegt, ist nicht bekannt, wohl aber, dass der Verbandschef nach Lukaschenkos skandalöser, nun ja, Wiederwahl einen flammenden Post auf Facebook abgesetzt hatte: "Nicht mein Präsident!!!" Deviyatovskiy präzisierte sogar, dass er seine frühere Unterstützung für das Regime heute als "Verrat an mir selbst" empfinde. So geht es zu in Belarus, wo Lukaschenko ungestört die Peitsche schwingen darf; er ist ja ein ehrenwertes Mitglied der olympischen Familie. Das bringt das Internationale Olympische Komitee zunehmend in Bedrängnis. Denn zwar duldet der Ringe-Konzern unter dem deutschen Wirtschaftsanwalt Thomas Bach ungerührt die filmreifen Missstände in Minsk, wo ein in allgemeine Ächtung abgedrifteter Herrscher den Sport politisch gekapert hat und ausgewiesene Doper befördert. Sehr beunruhigt ist das IOC aber trotzdem: Wegen dieser Sache in Italien. Auch dort übt die Politik Druck auf den Sport aus, jedoch versucht sie, den Funktionären strenger auf die Finger zu schauen. Abkömmlinge des nationalen Dachverbands Coni zählen ja seit Dekaden zu den schillerndsten Figuren; gerade steht Paolo Barelli im Fokus. Der Chef des europäischen Schwimmverbandes LEN kämpft gegen Korruptionsvorwürfe, die ihm am LEN-Sitz in der Schweiz eine Strafermittlung eingebrockt haben. Es geht um Marketingverträge mit diskreten Firmen und Honoraren, Spuren führen in Italiens Immobilienwelt. Barelli weist die Vorwürfe zurück. Aber vor allem ist da dieses sensible Milliardengeschäft 2026: Die Winterspiele in Mailand und Cortina d'Ampezzo. Italiens Regierung will das Olympiakomitee Coni enger kontrollieren, ein vorliegender Gesetzentwurf gestattet der Regierung Eingriffsmöglichkeiten in die Finanz- und Verwaltungshoheit bis hin zur Macht, dieses Dachgremium aufzulösen. Das hat das IOC in helle Panik versetzt. Es fürchtet um die sogenannte Autonomie des Sports und droht in letzter Konsequenz mit der Suspendierung des Coni. Erst am Samstag war Bach in Minsk und drohte Lukaschenko mit der Suspendierung ... - sorry, Schmarrn: Bach weilte am Samstag in Imola und dozierte der italienischen Agentur Ansa zufolge über wachsende Risiken für die Medaillenausbeute italienischer Athleten bei den Tokio-Spielen: Wegen möglicher Vorbereitungsprobleme. Noch besorgter sei er gar in Hinblick auf Italiens Spiele 2026. Falls dieses Gesetz verabschiedet werde.

Lässt sich offener drohen?

Sportminister Vincenzo Spadafora ist nicht amüsiert. Bachs Argumentation sei "lächerlich", er fordert den IOC-Boss zu einer Klarstellung auf - und er verweist auf Belarus. "Wenn für Bach die Autonomie des weißrussischen NOK nicht mal zur Diskussion steht, dann erst recht nicht für Italien", findet Spadafora. Und hat damit schon alles gesagt.

© SZ vom 30.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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