Kommentar:Die Kraft des Kerns

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IOC-Chef Thomas Bach betont gern, dass die Athleten im Zentrum des Weltsports stehen. Die Doping-Enthüllungen des Mc-Laren-Reports sorgen nun dafür, dass sich immer mehr mündige Athleten gegen die eigenen Funktionäre wenden.

Von Johannes Aumüller

Was ist die Aufgabe exponierter Athletenvertreter in der heutigen Sportwelt? Ganz einfach: Sie sollten versuchen, "eine zuverlässige Brücke zwischen Russland und dem IOC zu sein". So sagte das vor ein paar Monaten Jelena Issinbajewa. Die war mal als Stabhochsprung-Olympiasiegerin berühmt. Inzwischen ist sie ein Vorzeigegesicht von Wladimir Putins neuem Sportsystem, Aufsichtsratschefin von Russlands Anti-Doping-Agentur Rusada - und Athletenvertreterin im Internationalen Olympischen Komitee mit oben genannter Arbeitsdefinition.

Ach, wie schön könnte das Leben als führender Sportpolitiker sein, wenn sich nur alle Sportler derart brav die passenden sportpolitischen Leitsätze zu eigen machen würden. Nur ist es so, dass die Zahl stromlinienförmiger Athletenvertreter à la Issinbajewa deutlich abnimmt. Die Athleten sind der Kern des Sports - das ist ein Grundsatz, den IOC-Chef Thomas Bach oft betont, aber nicht ganz so oft zur Grundlage seines Handelns macht. Nun wendet sich dieser Kern immer regelmäßiger und eindeutiger gegen die eigenen Funktionäre. Der Bericht des von der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada eingesetzten Sonderermittlers Richard McLaren zum russischen Manipulationssystem hat das Fass offenbar zum Überlaufen gebracht.

Ein tiefer Graben: hier Athleten, dort Bach und die Funktionäre

Schon im Sommer, nach dem ersten McLaren-Bericht, beklagten sich Athletenvertreter aus IOC und Wada. Die Sportler hätten das Vertrauen in ihre Führung verloren, schrieben Claudia Bokel und Beckie Scott in einem offenen Brief. Zahlreiche andere Vorzeigesportler äußern sich ähnlich. Und in diesen Tagen sind es insbesondere Vertreter verschiedener Wintersportarten, die sich positionieren und so zeigen, welche Kraft sie bisweilen haben können.

Zuerst zwang eine Boykott-Drohung lettischer und anderer Bob-Athleten den internationalen Fachverband, die WM aus Sotschi abzuziehen. Im Biathlon sagte Szene-Dominator Martin Fourcade stellvertretend für viele: "Wenn der Verband nicht genügend Mut zur Bewältigung des Problems hat, müssen die Athleten selbst aktiv werden." Russlands Verband kam anderen Konsequenzen zuvor, indem er freiwillig einen Weltcup zurückgab. Nun bitten 104 Langläufer aus zehn Nationen die eigene Weltverbandsführung zum Krisengespräch, weil der Umgang mit Russlands Dopingsumpf "über mehrere Sportarten hinweg beunruhigend nachsichtig" gewesen sei.

Es spricht Bände, dass sich die Athleten überhaupt so einbringen müssen - und dass die Verbandsspitzen nicht in der Lage sind, das Doping-Thema selbst seriös in die Hand zu nehmen. So hat sich längst ein tiefer Graben gebildet: hier der IOC-Chef Bach und die Funktionäre, dort viele mündige Sportler.

Mal ein Gedankenspiel: Was wäre eigentlich, wenn Cristiano Ronaldo, Lionel Messi oder Thomas Müller mit Blick auf die Fußball-WM 2018 in Russland zu einem ähnlichen Schluss kommen würden wie ihre Bob- oder Langlauf- Kollegen in diesen Tagen?

© SZ vom 28.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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