Kanusport:Mit Kompass im Nebel

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Mit 38 Jahren noch immer nicht einzuholen: Ronald Rauhe stieg nach Rio 2016 in das Mannschaftsboot um. (Foto: imago sportfotodienst)

Die Bootshäuser sind wie der Rest der Sportanlagen geschlossen, die Kanuten sitzen auf dem Trockenen. Für Olympiasieger Ronald Rauhe hat sich die Lage durch die Verschiebung der Tokio-Spiele zusätzlich verkompliziert.

Von Barbara Klimke, Berlin/München

Ein paar Paddelschläge, und Ronald Rauhe wäre allein auf der glatten Fläche. Nur Wasser und Wind, am Ufer die Baumreihen, von denen er sich rasch gleitend mit hoher Schlagfrequenz entfernt. Doch das Kanu bleibt an Land, das Training auf dem Falkenhagener See westlich von Berlin hat er eingestellt. Er möchte keine Sondergenehmigung beanspruchen, solange andere in ihren vier Wänden bleiben müssen, sagt Rauhe. Für einen Wassersportler heißt das: Sport auf dem Wasser ist fürs Erste tabu.

Anpaddeln? Kann nur, wer sein Boot zufällig in der heimischen Garage verstaute

Bis zum 30. Juni hat der Deutsche Kanu-Verband (DKV) alle Wettbewerbe abgesagt. Die Bootshäuser sind verriegelt. So wie auch Turnhallen, Trainingszentren und Bolzplätze überall auf behördliche Anordnung hin gesperrt sind. Der Kanusport, den hierzulande rund 122 000 Leute betreiben, davon 90 Prozent in ihrer Freizeit, liegt weitgehend auf dem Trockenen. Lospaddeln kann jetzt im Frühling nur, wer sein Kajak zufällig den Winter über im heimischen Gartenschuppen oder in der Garage eingemottet hatte; und auch nur dann, wenn es die Infektionsschutzregeln der jeweiligen Bundesländer erlauben. Ronald Rauhe, Olympiasieger von 2004, Weltmeister und deutscher Rekordtitelträger, lässt es lieber bleiben. "Wir kommen nur alle gemeinsam aus der Krise", sagt er. Und da will er vorbildlich handeln.

Ohnehin sind seine kurzfristigen Ziele gerade in dicken Zukunftsnebel eingetaucht, und so kann eine Solidar-Pause auch dazu dienen, den Kompass neu auszurichten. Rauhe ist 38 Jahre alt, die Sommerspiele in Tokio, die seine sechsten und letzten werden sollten, sind wegen der grassierenden Pandemie um zwölf Monate verschoben. Noch weiß er nicht, ob er seine Rennkarriere verlängern soll; ob er seiner Familie und sich selbst ein weiteres Jahr zeitraubender Wettkampf- und Trainingsmaßnahmen zumuten kann und will. "Ich würde gern weiterfahren, und ich würde gern meine Frau entlasten", sagt er. Dreieinhalb Jahre lag er auf Kurs, dann ließ ihn der Beschluss des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ins Dilemma driften.

Denn es ist nicht irgendein Kanu, in dem er sitzt. Der Vierer-Kajak gilt als Flaggschiff des DKV. Er steht ähnlich hoch im Kurs wie der Achter bei den Ruderern - mit dem Unterschied, dass die Kanuten den hierzulande erfolgreichsten olympischen Sommersportverband bilden. Ein Viertel aller Goldmedaillen bei den Spielen seit der Wende, so rechnet Verbandspräsident Thomas Konietzko nicht ohne Stolz vor, geht auf Kosten des DKV und seiner Crews. Und im Prestigeboot, dem Vierer, sei Ronald Rauhe vom KC Potsdam inzwischen der "absolute Anführer".

Dass er je zum Kommandanten des Mannschaftsboots aufsteigen würde, war bei den letzten Spielen 2016 in Rio de Janeiro allerdings noch nicht abzusehen. Damals ergatterte Rauhe allein im Einer die Bronzemedaille über 200 Meter, auf der kürzesten Rennstrecke. Für das Flaggschiff, das über 1000 Meter zu Gold glitt (in der Besetzung Rendschmidt, Liebscher, Hoff, Groß), brauchte es einen längeren Atem, und für einen solchen Marathon war ein Sprinter wie Rauhe nicht gebaut. Doch dann änderte das IOC seine Regeln zu Quotenplätzen, die Kanu-Funktionäre sortierten die olympischen Disziplinen neu, und als der komplizierte Verteilungskampf abgeschlossen war, gab es die 1000-Meter-Goldstrecke für den Vierer nicht mehr. Stattdessen wird jetzt über die halbe Distanz gepaddelt. Und dafür musste neben den Ausdauerathleten ein Schnellkraftspezialist ins Boot, einer der den Takt beschleunigen kann. So vertagte Rauhe nach Rio sein bereits geplantes Karriereende bis 2020 und stieg um. Er ist bis heute, auch mit 38, der schnellste Sprinter im Land.

Die Frage ist, ob der Kapitän des Weltmeister-Vierers vor Tokio 2021 von Bord geht

Die Frage ist nun, ob der Kapitän vorzeitig von Bord gehen soll, da die Tokio-Spiele verschoben sind. Ronald Rauhe ist Vater von zwei Kleinkindern, er glaubt, dass er seiner Frau Fanny Fischer, ebenfalls Kanutin und Olympiasiegerin 2008, in den letzten Jahren zu selten eine Hilfe war. Wenn er zwölf Monate weiter paddelt, dann verpasst er im Sommer 2021 auch die Einschulung seines Ältesten: "Das wäre jetzt schon klar." Eine Entscheidung, sagt er, würde ihm leichter fallen, wenn es sich um "irgendein Hoffnungsboot" handelte. Aber der Vierer mit Max Rendschmidt, Rauhe, Tom Liebscher und Max Lemke hat seit seinem Stapellauf Weltrekorde pulverisiert, ist als Weltmeister unbesiegt und für den DKV auch Tokio-Favorit.

Das Verbandspräsidium kennt die schwierige Lage seiner Spitzenathleten. Für viele, sagt DKV-Chef Konietzko, sei nach der Tokio-Entscheidung die unmittelbare Lebensplanung wie ein Kartenhaus eingestürzt. Der Verband, der sich neben den Rennkanuten auch für die rund 110 000 Breitensportler verantwortlich fühlt, für Wanderfahrer und Küstenpaddler, hat in der Viruskrise selbst Notmaßnahmen getroffen: Für die Beschäftigten in der Geschäftsstelle habe das Präsidium Kurzarbeit anmelden müssen, mit den Betroffenen, so Konietzko, würden nun Gespräche geführt. Dabei gebe es durchaus Bereiche, die nun vor besonderen Herausforderungen stehen, weil etwa der Ausbildungsbereich ins Internet verlagert wird.

Unsicher sei zudem die weitere Unterstützung durch Sponsoren in dieser wirtschaftlichen Notlage. Der Verband sucht nach Möglichkeiten, die Kinder und Nachwuchsathleten zu motivieren, die nicht aufs Wasser können. Noch, so heißt es im DKV, gebe es Hoffnung auf Wettkämpfe im späten Sommer, "damit alle in diesem Jahr noch ein Ziel vor Augen haben". Aber die ersten Paddelfreunde beschweren sich schon über die Bootshausschließungen. "Wir appellieren da an die Solidargemeinschaft der Sportler", sagt Konietzko. Ob Olympiasieger wie Rauhe oder Küstenpaddler: Gestrandet sind sie derzeit alle.

© SZ vom 08.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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