Jürgen Klinsmanns Rückzug:Erschöpft vom Erfolg

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Als Bundestrainer hat er alle Widerstände im Sturmschritt überwunden, nun nimmt er sich die letzte Freiheit - einen Abschied auf dem Höhepunkt.

Philipp Selldorf

Zum Schluss geriet die Begeisterung der Deutschen zur Belastung, und spätestens, als sich vor seinem Hotel in Baiersbronn im Schwarzwald die zweite Grundschulklasse versammelte, selbst gepinselte Plakate reckte und mit vereinten Stimmchen rief: "Wir wollen den Klinsi sehen", da wusste Jürgen Klinsmann, dass die Zeit gekommen ist, adieu zu sagen und wieder ein eigenes Leben zu führen.

Der Tod von Jürgen Klinsmanns Vater verbindet sie: Mayer-Vorfelder und Klinsmann (Foto: Foto: ddp)

Die Entscheidung, die Arbeit als Bundestrainer nicht fortzusetzen, sei "in den letzten Tagen gereift", sagte Klinsmann am Dienstag in Frankfurt.

Aber er hat sie schon früher getroffen, er brauchte bloß noch ein Stück Abstand, auch um den Anstand zu wahren, und den letzten Rest Gewissheit zu erlangen. Bereits am Wochenende hatte Klinsmann das Gefühl, dass ihn die Situation überwältigt und ihn seine neue Rolle als Bundestrainer der Herzen überfordert.

Es war das Wochenende, an dem die deutsche Mannschaft das Trostspiel um Platz drei in Stuttgart spielen sollte. Ein Spiel, das Fußballer traditionell verachten; "im Prinzip", hatte der Bremer Profi Tim Borowski mit dem Ausdruck größten Abscheus gesagt, "geht es da um die goldene Ananas".

"Es war emotional zu viel"

Doch das unsinnige Spiel verwandelten die Fans in eine monumentale Kundgebung ihrer Liebe. Schon am Freitag bei der Ankunft in Stuttgart standen 10.000 vor dem Hotel, es herrschte ein Tumult wie bei einer religiösen Ekstase, und am nächsten Tag, nach dem 3:1-Sieg gegen Portugal, kamen sie alle zurück und hielten wieder kreischend Nachtwache vor der Unterkunft.

Das war enorm und einzigartig, so etwas hatten die Nationalspieler noch nie erlebt - und trotzdem war es nur der Vorgeschmack auf die Jubelfeier, die Hunderttausende der Mannschaft am Sonntag auf der Berliner Fanmeile bereiteten. Während Spötter im Team lästerten, nun sei es aber Zeit, dass "Tokyo Hotel" wieder auf Tournee gehe, war für Jürgen Klinsmann der Punkt erreicht, an dem er es nicht mehr aushielt, den Mittelpunkt des Trubels bilden zu müssen und dafür verantwortlich zu sein, dass die Party immer weitergeht.

"Er konnte nicht mehr, das war emotional einfach zu viel für ihn", erzählt sein Berater und ständiger Begleiter Roland Eitel.

Am Mittwochvormittag musste daher in der Frankfurter Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) die Staffeltagung der Regionalliga in ein benachbartes Hotel verlegt werden. Die Vertreter des Amateurfußballs machten Platz für ein Gipfeltreffen im großen Sitzungssaal: Jürgen Klinsmann saß neben seinem Freund und Nachfolger Joachim Löw sowie dem Teammanager Oliver Bierhoff, rechts und links die führenden Köpfe des Verbandes, die Präsidenten Theo Zwanziger und Gerhard Mayer-Vorfelder, der Schatzmeister Heinrich Schmidhuber, der Generalsekretär Horst R. Schmidt.

Ein riesiges Aufgebot von Fotografen und Kameraleuten verbreitete die übliche Hektik. Dann redete Klinsmann, der ab sofort nur noch der ehemalige Bundestrainer ist, obwohl ihm in den vergangenen Tagen circa 99 Prozent der Wähler im Fußball-Volk ihre Stimme für eine weitere Amtszeit gegeben haben.

Er begann mit einem vorbereiteten Scherz: "Ich habe mir extra einen Zettel mitgebracht, Jens Lehmann hat mir einen mitgegeben", sagte er in Anspielung auf den berühmten Zetteltrick des Torwarts beim Elfmeterschießen gegen Argentinien. Aber eigentlich war ihm schwer ums Herz und gar nicht nach Witzeleien zumute.

Wasser in den Augen

Es fehlte auch nicht viel, da wären ihm die Tränen gekommen. Klinsmann sprach zunächst noch recht gelöst über die Gründe seines Aussteigens. Davon, dass es "einfach ein großer Wunsch ist, in die Normalität der Familie zurückzugehen", dass er "sehr viel Kraft gelassen" habe, und dass er sich "ausgebrannt, leer und absolut nicht imstande fühle, diese Arbeit mit der gleichen Energie und Power auszuführen".

Aber als er dann bei den Danksagungen anlangte und den neben ihm sitzenden Mayer-Vorfelder mit "mein MV" ansprach, da fiel ihm wieder ein, wie er mit eben jenem MV vor einem Jahr am Grab des Vaters gestanden hat, der gerade gestorben war. Beide mussten sie schwer schlucken bei dieser Erinnerung, die Tränen nahten. Mayer-Vorfelder nahm Klinsmanns Hand und drückte sie, fünf oder noch mehr Fernsehsender fingen das Bild live ein.

So ist die Geschichte seines Vaters Siegfried eine Art Klammer für die Zeit als Bundestrainer. Vor zwei Jahren saß er in demselben Saal und sagte, er hoffe, dass sein kranker Vater wieder gesund werde und die WM miterleben könne, und nun saß er wieder da und reflektierte über den Tod.

Einige werden das womöglich wieder für amerikanisches Kino halten, aber das ist - auch den bewegten Mayer-Vorfelder betreffend - ein großes Missverständnis.

Klinsmann ist ja von vielen falsch verstanden worden während der knapp zwei Jahre, in denen er den Versuch unternahm, etwas Unmögliches zu schaffen: Weltmeister zu werden.

Man hat ihm misstraut, an seiner Aufrichtigkeit gezweifelt, seine Sprache auf doppelte Böden untersucht und seine Motive in der Weise gedeutet, dass sie wieder den Regeln des Fußballs entsprechen. Klinsmann sei ein Materialist, hieß es; auf seinem Herzen stehe nur ein Wort: Geld. Er sei kalt und berechnend.

Solche Expertisen hörte man aus der Fußballbranche, deren typischen Denkweisen sich Klinsmann immer widersetzt hat und die er am meisten dadurch negierte, dass er sich nach der Karriere der Szene entzog und einfach nach Kalifornien in die Anonymität übersiedelte.

Der Matthäus-Schatten

"Killer" taufte ihn sein ehemaliger Mitspieler und Widersacher Lothar Matthäus, der als Kolumnist für die Zeitschrift Sport-Bild wie ein Schatten hinter Klinsmann herkommentierte und ständig seine Analysen revidieren musste, weil er alles falsch interpretiert hatte. Aber damit stand Matthäus keineswegs allein.

"Im Grunde ist Jürgen Klinsmann ganz leicht berechenbar - und trotzdem hat es keiner geschafft", sagt Eitel.

Solche Widersprüche werden wohl sein Kennzeichen bleiben. "Er ist nicht einfach, aber er ist einfach gut", sagt einer aus dem WM-Tross, und dass der ehemalige Bundestrainer ein Mann mit doppelten Eigenschaften ist: "Er ist Schwabe durch und durch, und nicht nur das: Er ist auch noch Klinsmann."

Man hört einiges Leid und einige Prüfungen aus diesen Sätzen, aber auch eine Menge Respekt, und so ergeht es vielen, die bei Klinsmann an Grenzen gestoßen sind. Theo Zwanziger, der zweite DFB-Präsident, der im Verband nicht für die Gefühle zuständig ist wie Mayer-Vorfelder, sondern für den Realismus und die Fakten, lobte Klinsmann auffallend zwiespältig: Für "seine eckige und manchmal spaltende, aber immer auch erfolgsorientierte Art".

Den Auseinandersetzungen mit den Bundesligavertretern, DFB-Funktionären und Widersachern in den Medien hat Klinsmann in den zwei Jahren als Bundestrainer gut standgehalten. Seine Durchsetzungskraft ist legendär, und seine Unabhängigkeit verschafft ihm viel Spielraum. Aber er hat auch gelitten unter Schlagzeilen wie "Grinsi-Klinsi" ( Bild) und unter den subtilen und manchmal auch offenen Sabotageakten seiner Gegner im DFB.

Dass er nun Dank sagte für die "phänomenale Unterstützung" im Verband, das war eine diplomatische Leistung.

Nächte im Fitnessraum

Das Geld hat er nicht verachtet, keine Frage, darin ist er Profi geblieben. Aber wenn ihm Geld so wichtig wäre, dann hätte er jetzt weitergemacht, einen neuen Vertrag aufsetzen und ihn mit Werbemillionen vergolden lassen.

Darauf hat er verzichtet zugunsten der Wiedergewinnung seiner persönlichen Freiheiten. Die Bedingungen seiner Arbeit wären ja weiterhin extrem schwierig geblieben: Für Klinsmann war es ausgeschlossen, nach Deutschland zu ziehen.

Wenn er weitergemacht hätte, dann wäre es wieder ein Leben zwischen den Welten gewesen: privat und beruflich. Hotels hat Klinsmann danach ausgesucht, ob nachts der Fitnessraum geöffnet ist. Mitten in der Nacht sah man ihn dann dort trainieren, er litt am Jetlag. Das wollte er nicht mehr.

Als sich am Mittwoch die Fragen wiederholten, wie er es hat wagen können, die Mannschaft und das Land einfach zurückzulassen, da meldete sich Klinsmanns Nachfolger Löw zu Wort: "Man sollte auch respektieren, wenn einer nicht die Karriere, sondern die Familie in den Mittelpunkt stellt." Respektieren schon, aber verstehen?

Ein wenig unverstanden wird Klinsmann wohl immer bleiben, aber eines hat sich geändert: Er besitzt jetzt die Zuneigung des Publikums, die ihm bis dahin immer verwehrt geblieben war.

So blieb es Mayer-Vorfelder vorbehalten, seinem ehemaligen Präsidenten beim VfB Stuttgart und heute eine Art imaginärer Großonkel, die größte Würdigung des Bundestrainers Jürgen Klinsmann zu formulieren: "Jürgens Leistung ist im Grunde genommen unvorstellbar: Nicht nur, dass er Glaube und Zuversicht gebracht hat.

Er hat es auch geschafft, dass das ganze deutsche Volk in Bewegung gebracht worden ist, in einer Art und Weise, wie ich mir das in meinen kühnsten Träumen nicht habe vorstellen können."

© SZ vom 13.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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