Judith Arndt wird Weltmeisterin:Letzte Zeichen einer Streitbaren

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Judith Arndt war fünf Mal bei Olympia und gewann dort drei Medaillen. In Athen streckte sie einst bei der Zieldurchfahrt dem deutschen Verband demonstrativ den Mittelfinger entgegen. Nun nimmt sie bei der Weltmeisterschaft Abschied vom Radsport - und gewinnt dabei noch einmal das Zeitfahren.

Ulrich Hartmann, Valkenburg

Um exakt 16:12:30 Uhr rollte Judith Arndt am Dienstag ein letztes Mal die Rampe hinunter. Im niederländischen Eijsden nahm sie auf ruppigem Kopfsteinpflaster Tempo auf für ihr letztes Zeitfahren. Sie trug den typischen aerodynamischen Helm, mit dem die Fahrerinnen immer ein bisschen aussehen wie Wesen von einem fremden Stern.

Für die 36-Jährige ist das gar kein schlechter Vergleich. 21 Jahre lang hat sie die meiste Zeit ihres Lebens dem Radsport verschrieben, ist Stunde um Stunde durch die Landschaft gefahren. "Wir Radsportler schmoren ja immer so bisschen in unserem eigenen Saft", hat sie einmal gesagt. Aber sie hat prächtig geschmort. Sie war fünf Mal bei Olympia, gewann dort drei Medaillen, wurde drei Mal Weltmeisterin und bestreitet am kommenden Samstag beim Straßenrennen der WM in der niederländischen Provinz Limburg ihren allerletzten Wettbewerb.

Sie geht anschließend nach Australien, um Soziologie und Kulturwissenschaften zu studieren. Nach 21 Jahren im Sattel, nach ungezählten einsamen Rennen wie jenem am Dienstag im WM-Einzelzeitfahren gegen die Uhr, beginnt für die gebürtige Brandenburgerin, die derzeit noch in Planegg bei München wohnt, in Melbourne ein neues Leben unter lärmenden Kommilitonen.

In ihr letztes Zeitfahren am Dienstag war sie als Titelverteidigerin und deswegen als Letzte von 42 Starterinnen gegangen. 32:26,46 Minuten später kam sie nach 24,3 Kilometern mit der besten Zeit ins Ziel. Drei der großen Konkurrentinnen hatten gefehlt: die Olympiasiegerin Kristin Armstrong aus den USA, die Olympia-Dritte Olga Zabelinskaya aus Russland und die Lokalmatadorin Marianne Vos. Aber was machte das schon? Judith Arndt war zum vierten Mal Weltmeisterin.

Seit vier Jahren schon, seit Olympia in Peking, hatte sich Arndt mit dem Gedanken ans Aufhören beschäftigt. London war dann aber doch noch einmal das große Ziel geworden, weil ihr olympisches Gold noch gefehlt hatte. Sie wurde Zweite im Zeitfahren, muss folglich ohne olympisches Gold aufhören und mag aber deshalb nicht verzagen.

Das "Gerede vom Gold" nerve, und so hat sie beschlossen, "trotzdem stolz zu sein auf meine Karriere". Ihre Mutter habe ihr zwar neulich erzählt, dass sie als kleines Kind bereits den Berufswunsch "Olympiasiegerin" geäußert habe, doch aufgrund ihrer vielen anderen Erfolge sei sie dennoch zufrieden mit ihrer Karriere. "Ich bin ein glücklicher Mensch."

Arndt hatte ihre ersten großen Erfolge zunächst auf der Bahn gefeiert (Olympia-Bronze 1996 und WM-Titel 1997), dann auf der Straße (Olympia-Silber und WM-Titel 2004) sowie zuletzt im Zeitfahren (WM-Titel 2011 und Olympia-Silber 2012). Die Erfolge haben ihr die 15 Jahre auf höchstem Niveau dauernden Anstrengungen als Profiradsportlerin zwar versüßt, aber an die Qualen gerade beim Zeitfahren hat sie sich nie so richtig gewöhnen können. "Vor jedem Start habe ich Angst vor den Schmerzen", hat sie einmal erzählt, und gerade jetzt, vor der WM in Limburg, vor ihrem Abschied aus dem Radsport, hatte sie wiederum Angst, "dass man sich, wenn es anfängt, richtig weh zu tun, sagt: Was soll's, ist doch eh mein letztes Rennen".

Bei den Olympischen Spiele in London (im Bild) war Judith Arndt Zweite geworden, nun gewann sie die Weltmeisterschaft. (Foto: dapd)

Sie hat solche Sachen immer eher mit sich selbst ausgemacht. Seit 15 Jahren hat sie keinen persönlichen Trainer mehr, weil sie gemerkt hatte, dass es auch so ganz gut funktioniert, dass sie alleine wusste, was zu tun ist. Außerdem, sagt sie mit einem Lächeln, "gibt es so nur eine Meinung, das ist meine, und die wird dann auch durchgesetzt". So wie 2004.

Bei Olympia in Athen war das vielleicht berühmteste Foto von ihr entstanden. Während sie beim Straßenrennen als Zweitplatzierte über die Ziellinie fuhr, hob sie die rechte Hand und streckte dem deutschen Verband demonstrativ den Mittelfinger entgegen, weil man ihre damalige Lebensgefährtin Petra Roßner nicht nominiert hatte und weil sie sich von den Funktionären nicht gut betreut gefühlt hatte. Die ganze Welt hatte diesen Mittelfinger gesehen, und die Welt fühlte sich ein bisschen brüskiert. Ihre Geste bereute Judith Arndt nachher - die Kritik in der Sache allerdings keineswegs.

Und so verlässt die streitbare Sportlerin ihre Bühne in dieser Woche auch nicht ohne Kritik an den Verantwortlichen. Dafür, dass der Frauen-Radsport in der Öffentlichkeit noch immer wenig Akzeptanz finde, macht sie mangelhaften Mut der Funktionäre verantwortlich. Der Weltverband müsse investieren, sagt Arndt, dann könne langfristig auch ein Gewinn herauskommen. "Aber bei der UCI hat man immer das Gefühl, dass man gegen eine Wand läuft."

Bald muss sie sich damit nicht mehr herumschlagen. Dann wird es an der Universität Melbourne um andere Inhalte gehen. Dann wird sie auch nicht mehr ihre Trainingsstrecken an der Isar oder rund ums Kloster Andechs fahren. Das Rad kommt in den Keller. "Noch einmal vier Jahre hätte ich nicht geschafft", sagt Judith Arndt.

Wehmut will sie keine aufkommen lassen. "Wenn ich nicht froh wäre über das Ende, dann würde ich es nicht machen." Am kommenden Samstag fährt sie ihr Abschiedsrennen. Kurz vor dem Ziel des Kurses steht am Straßenrand das Ortsausgangsschild des Städtchens Valkenburg. "Tot ziens", steht darauf: Auf Wiedersehen.

© SZ vom 19.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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