Italien:Helden aus Hinterhöfen

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Die neuen Stürmer der Azzurri haben zwar nicht das Charisma berühmter Vorgänger - doch Graziano Pellè und Eder sind die Spitzen eines sehr homogenen Teams.

Von Ulrich Hartmann, Lyon

Antonio Conte war gerührt. Das will etwas heißen bei einem Trainer, der sich kurz vor der Europameisterschaft noch skeptisch bis verweigernd zu Fragen über die italienischen Ambitionen geäußert hatte. Jetzt, nach dem 2:0-Auftaktsieg gegen die hoch gehandelten Belgier, sagte Conte immer wieder: "Ich bin begeistert." Das klang, als könne er gar nicht glauben, was ihm seine Mannschaft kurz zuvor gezeigt hatte. Er ließ keinen Pathos aus in seiner blumigen Dankesrede, sprach von "Exzellenz", von "Blut, Schweiß und Tränen" - und sagte erstmals einen Satz, der in Italien eigentlich sofort als Breaking News durch das Nachtprogramm jedes TV-Senders hätte laufen müssen: "Wir können hier etwas erreichen."

So hatte der 46-Jährige die EM-Chancen der Azzurri zuvor nie auf den Punkt gebracht. Aber vielleicht war er am Montag kurz vor Mitternacht auch einfach nur berauscht von der Vorstellung einer Mannschaft, der kaum jemand ein solch perfektes Pressing- und Konterspiel zugetraut hatte: "Ich bin heute sehr emotional", sagte Conte als Patron einer Heldentruppe, die als zu abgetakelt für erfolgreichen EM-Fußball eingestuft worden war.

Womöglich kannten aber auch zu wenige die wahren Stärken einiger dieser europaweit kaum bekannten Fußballer. Der neue Sturm-Grande Italiens etwa hat eine bewegte Vergangenheit in den Niederungen des Profifußballs hinter sich: Lecce, Catania, Crotone, Cesena, Alkmaar - das sind keine repräsentativen Adressen, es sind eher die Hinterhöfe des Fußballs. Aber aus Hinterhöfen kommen manchmal jene Straßenfußballer, deren Authentizität und Leidenschaft irgendwann für große Momente prädestiniert ist.

Ohne Netz: Italiens Fußballer übten sich gegen Belgien als Artisten. Graziano Pellè erzielte gekonnt das 2:0. (Foto: SvenSimon)

Für Graziano Pellè, 30, war dieser Moment am Montagabend um kurz vor 23 Uhr im Osten Lyons gekommen: In der Nachspielzeit einer noch auf der Kippe stehenden Partie gegen drängende Belgier erzielte der Stürmer, der aktuell beim britischen Premier-League-Klub FC Southampton spielt, das wunderschöne Tor zum 2:0-Endstand - volley per Seitfallzieher.

Pellè ist im Gegensatz zu all den namhaften Stürmern bei dieser Europameisterschaft international auch deshalb ein recht unbeschriebenes Blatt, weil er im Oktober 2014 im Alter von 29 Jahren überhaupt erst sein Debüt im Nationalteam gegeben hat. Pellè (nicht: Pelé) folgt an der Seite seines kaum prominenteren Sturmkollegen Éder - einem eingebürgerten Brasilianer, der zuletzt für Inter Mailand gespielt hat - auf allerhand namhafte italienische Stürmer, die durch ihre Treffsicherheit und ihr Charisma diverse Ären geprägt hatten: Rossi, Inzaghi, Baggio, Luca Toni, del Piero, Totti, Balotelli.

Momentan, da alle Welt die italienische Abwehr mit ihren Routiniers Leonardo Bonucci, 29, Giorgio Chiellini, 31, und Andrea Barzagli, 35, lobt, genießen Pellè und Éder eine gewisse Narrenfreiheit. Italien sucht neue Stürmer, hatte es vor dieser EM geheißen, und erst am Montag haben alle erkannt, dass der Trainer Conte diese längst gefunden hat. Die beiden sind die perfekten Konterstürmer in seinem Pressing-und Umschaltspiel.

Vor allem über die rechte Seite funktioniert die Ausrichtung dieser italienischen Elf. Das zeigen die Pass-Daten des Belgien-Spiels. Der Ballaustausch zwischen Rechtsverteidiger Barzagli und dem rechten Flügelmann Antonio Candreva war der intensivste im italienischen Spiel, danach folgten im Mittelfeld jene zwischen Candreva und dem rechtsausgelegten Marco Parolo sowie zwischen Candreva und dem rechten Stürmer Pellè. Im Vergleich dazu waren Vorstöße links zu vernachlässigen.

Pellè hat sich nicht verletzt - im Gegensatz zu Trainer Conte (Nasenbluten vom Torjubel) und zu Torwart-Veteran Gianluigi Buffon (Rückenschmerzen nach Sturz von der in der Siegeseuphorie erklommenen Torlatte) -, aber er musste am Dienstag trotzdem als einziger mit dem Training pausieren. Er wurde wegen muskulärer Beschwerden nur massiert, nach einer Untersuchung durch den Teamarzt hieß es jedoch, er habe keine größeren Probleme.

Plötzlich ist da der Traum von einem unerwarteten Titel, wie zuletzt bei der WM 2006

Mit 31,5 Jahren hatten die Italiener am Montag die älteste Startelf in der Geschichte der EM aufgeboten und die quirligen juvenilen Belgier mit einem undurchdringlichen 5-3-2-System gedemütigt: "Wir haben sehr intelligente Fußballer", informierte Conte hernach die Öffentlichkeit und stellte den Teamgeist als "Alchemie der Spieler" heraus. Es gilt als eine von Contes Schlüsselqualifikationen, die Fußballer seiner Mannschaften stets zur kollektiven Höchstleistung anstacheln zu können. "Das Normale wäre nicht genug", sagt er nun über einen möglichst weiten Weg bei diesem Turnier durch die K.-o.-Phase, "wir werden uns dazu übertreffen müssen."

Torwart Gianluigi Buffon rutschte beim Jubel nach dem Spiel an der Latte ab. (Foto: Jason Cairnduff/Reuters)

Vor den weiteren Gruppenspielen gegen Schweden am Freitag und gegen Irland am darauffolgenden Mittwoch gedeiht in Italien auch durch Contes Worte der Traum von einem unerwarteten Titel, wie zuletzt 2006 bei der WM in Deutschland, als die Italiener das Halbfinale gegen Deutschland sowie das Endspiel gegen Frankreich gewonnen hatten. Eine frühe Begegnung mit Deutschland droht nun aber auch bei der EM. Sollten beide Mannschaften ihre Gruppe sowie das Achtelfinale gewinnen, dann träfen sie am 2. Juli im Viertelfinale in Bordeaux bereits aufeinander.

In der Form ihrer Auftaktspiele wäre das Duell dieser beiden Mannschaften sogar eines Endspiels in Paris würdig, aber dazu dürften nicht beide Gruppensieger werden.

© SZ vom 15.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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