Interview:"Heute würde ich mehr Tore schießen, viel mehr"

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Gerd Müller zum Sechzigsten: ein Gespräch über blinde Treffer, Schüsse aus der Drehung und Doppelpässe mit Franz Beckenbauer.

Christof Kneer

SZ: Herr Müller, als Franz Beckenbauer 60 Jahre alt wurde, hat das ZDF eine große Abendshow organisiert. Sie werden am Donnerstag auch 60, aber bei Ihnen kam niemand auf diese Idee.

Auch im Tennis besser als Scholl und Zickler: Der Müller Gerd. (Foto: Foto: dpa)

Müller: Gottseidank. Die Gala vom Franz war anstrengend genug: Die ging von acht bis halb zwölf, und im Studio war's brutal heiß. Ich bin kein Typ für sowas. Ich will meine Ruhe haben.

SZ: Aber 60 wird man nicht jeden Tag.

Müller: Ja schon, aber mir bedeutet das nicht viel. Ich fühle mich auch nicht anders als vorher.

SZ: Wie alt fühlen Sie sich denn?

Müller: Also, wenn ich mir anschaue, wie ich zurzeit Tennis spiele, dann meine ich, ich werd' 40.

SZ: Tatsächlich? So gut in Form?

Müller: Seit zwei Jahren spiele ich wirklich sehr gut. Im Moment spiele ich jeden Tag, und ich kann jetzt auch mit der Vorhand das Spiel machen. Früher konnte ich das nur mit der Rückhand.

SZ: Spielen Sie denn nicht wie früher als Fußballer: kurz an den Ball kommen und schnell den Punkt machen?

Müller: Ich bin Grundlinienspieler, ans Netz gehe ich nicht so gern. Im Doppel kommt man fünf Minuten nicht zum Schlagen, und dann kommt plötzlich der Ball, und man macht einen Fehler. Da werde ich sauer.

SZ: Weil Sie genau das als Fußballer so gut gekonnt haben?

Müller: Wahrscheinlich. Da war ja genau das meine Stärke, und mich ärgert es furchtbar, wenn es beim Tennis nicht klappt. Da bleib ich lieber hinten.

SZ: Spielen Sie ab und zu gegen die alten Kollegen?

Müller: Von denen kann's ja keiner.

SZ: Gegen wen spielen Sie dann?

Müller: Der Mehmet Scholl spielt auch nicht mehr mit mir.

SZ: Warum das denn?

Müller: Ich habe vor vielen Jahren mal gegen ihn gespielt, und der Scholl hat immer geschlagen, als wenn er mit einem Tennislehrer zusammenspielt. Ich hab dann gesagt, du Scholl, du sollst mir nicht immer nur schön den Ball zuspielen, das hier ist ein richtiges Spiel.

SZ: Und dann?

Müller: Ich hab gewonnen, 6:0, 6:1. Seitdem spielt der Mehmet nicht mehr mit mir.

SZ: Und das Ergebnis wissen Sie noch so genau?

Müller: Ja klar, ich muss ihn ja immer ärgern damit, wie den Zickler auch.

SZ: Den haben Sie auch fertiggemacht.

Müller: Ja, aber der ist besser, weil er so schnell ist. Aber ich hab ihn auch abgeschossen - 6:2, 6:3.

SZ: Ist es Ihnen egal, wie Sie die Punkte machen?

Müller: Völlig egal. Punkt ist Punkt, wie beim Fußball. Ich bin ja oft gefragt worden, welches mein schönstes Tor war, und manchmal hab ich zum Spaß gesagt: Am schönsten ist ein Schuss ins leere Tor. Das einzige, was klar ist: Das 2:1 im WM-Finale 1974 gegen Holland war das wichtigste. Schönheit ist egal.

SZ: Schildern Sie doch mal dieses berühmteste Tor Ihrer Karriere.

Müller: Eigentlich war das ja auch ein schönes Tor, jetzt muss ich mich mal selber loben. Es waren drei Holländer um mich herum, ich starte, täusche an, aber auf einmal kommt der Ball auf den linken Fuß. Ich wollte ihn eigentlich mit rechts stoppen und sofort schießen, aber nachträglich war es ein Glück, dass er auf links kam. Von da springt er ein bisschen weg und kommt direkt auf meinen rechten Innenspann. Und ich kann schön aus der Drehung ins lange Eck schießen.

SZ: Wenn man davon ausgeht, dass Toreschießen das wichtigste im Fußball ist, dann waren Sie der beste Fußballer, den es je gegeben hat. Ist Ihnen das bewusst?

Müller: Hören'S auf, so denk' ich gar nicht. Ich hab halt nur ab und zu ein paar Tore geschossen.

SZ: 365 waren es in der Liga, 68 in der Nationalelf, und viele davon sahen aus wie das berühmte 2:1 gegen Holland.

Müller: Ja, der Strafraum war mein Reich. Von außerhalb des Sechzehners habe ich in meiner Karriere nicht viele Tore geschossen, vielleicht waren es fünf oder so. Einmal hab ich gegen die Glasgow Rangers einen Freistoß verwandelt, aber das war mehr aus Versehen. Ich sollte gar nicht schießen, ich hab mir einfach den Ball geschnappt. Und in meinem 200. Bundesligaspiel, das weiß ich auch noch, da hab ich ein Tor gegen den Nigbur von Schalke gemacht, aus 18 Metern. Nicht mit Vollspann, nur geschoben. Aber meist bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, von außerhalb zu schießen.

SZ: Und manchmal kam dann vom anderen Ende des Feldes Franz Beckenbauer angelaufen.

Müller: Wenn der Franz kam, wusste ich immer: Er will Doppelpass. Wenn der Franz mich schwach angespielt hat, sollte ich zurückspielen. Hat er mich aber scharf angespielt, dann musste ich mit dem scharfen Ball was machen.

SZ: Dann kam die typische Müller-Aktion: Ball mit dem Rücken zum Tor annehmen, blitzschnell drehen, schießen.

Müller: Ja, das war meine Spezialität, das geht aber nur, wenn du beidfüßig bist. Wenn der Verteidiger weiß, der Müller dreht sich immer in eine Richtung, dann geht's nicht. Und man muss auch blind treffen können, man muss ohne hinschauen wissen, wo das Tor steht. Wenn ich mich erstmal drehen konnte, hat der Verteidiger keine Chance mehr gehabt. Ich hab dann den Ball abgeschirmt...

SZ: ... um genau zu sein, haben Sie den Hintern rausgestreckt...

Müller: ... ja, und der Verteidiger kommt dann nicht hin. In dem Moment, in dem er die Bewegung mitmacht, hat er schon verloren. Wenn er sich mitdreht, dann spiel' ich ihn schwindlig. Eine Chance hatte er nur, wenn er vor mir am Ball war - aber dafür wiederum waren die Pässe vom Franz zu gut.

SZ: Haben Sie schon als Jugendspieler beim TSV Nördlingen gemerkt, dass Sie drehen und schießen besser können als andere?

Müller: Anfangs nicht. Ich hab das als Jugendlicher einfach so gemacht, und dann sind halt immer Tore gefallen. Ich hab das jeden Tag geübt, ich hab überall mittrainiert: in der Jugend, bei der Reserve, bei den Alten Herren. Ach ja, und die Firmenspiele gab's auch noch. Darf ich da mal eine Geschichte erzählen?

SZ: Klar.

Müller: Als ich bei den Bayern meinen Vertrag unterschrieben hatte, war am selben Tag ein Spiel unserer Firma gegen eine andere Firma in Nördlingen. Ein Freund hat mich zurückgefahren, aber da war zwischen Augsburg und Nördlingen eine Bundeswehrkolonne, und wir konnten nicht überholen. Die Leute in Nördlingen haben sich schon lustig gemacht: Der Müller, der kommt doch gar nicht. Als ich mit Verspätung doch noch gekommen bin, sind die plötzlich ganz ruhig geworden.

SZ: Wie stand's denn da?

Müller: 1:0 für die anderen.

SZ: Und wie ging's aus?

Müller: 4:1 für uns.

SZ: Wie viele Tore haben Sie gemacht?

Müller: Vier.

SZ: Ist Ihr Spielstil eigentlich ausgestorben oder gibt es den noch irgendwo?

Müller: Nein, es gibt auch diese Stürmer nicht mehr. Der Labbadia ging noch in diese Richtung, aber sonst? Einer wie der Klose geht links oder rechts auf den Flügel, das war nicht meine Aufgabe.

SZ: Sind Sie froh, dass sie nicht heute spielen? Da müssten Sie mehr laufen.

Müller: Im Gegenteil, ich würde gerne heute spielen. Von den Viererketten wirst du nicht so gedeckt wie wir früher. Ich hatte immer zwei Vorstopper und einen Libero gegen mich. Wenn wir in Duisburg gespielt haben, ist mir immer der Pirsig ins Kreuz gesprungen, und der Schiedsrichter hat nie gepfiffen. In München hat der Pirsig sich das nicht getraut, dann hab ich meine Tore gemacht.

SZ: Und gegen Abwehrketten ist es leichter als gegen Pirsigs?

Müller: Ja, das hat man beim Klinsmann gesehen. Als der bei Bayern war, gab's eine Phase, als er in der Liga nicht getroffen hat, im Europacup aber schon. Das lag daran, dass er in der Liga noch gegen Manndecker antreten musste, im Europacup aber gegen Viererketten.

SZ: Das heißt, Sie würden heute mindestens genau so viele Tore schießen.

Müller: Mehr würd' ich schießen, viel mehr. Wenn ein Stürmer den Instinkt hat und weiß, wo das Tor steht, dann hat er heute viel bessere Chancen.

SZ: Beckenbauer hat gesagt, Sie würden heute 80 Tore pro Saison schießen.

Müller: Achtzig ist übertrieben, aber mehr als meine 40 wären's schon.

SZ: Obwohl Viererketten clever sind und beim Verschieben einen Strafraumstürmer gerne mal ins Abseits stellen?

Müller: Einer von den vieren schläft ja immer - und das würd' ich dann riechen.

SZ: Ärgert es Sie manchmal, wenn der Fußballer Gerd Müller in der Rückschau nur auf den Torjäger reduziert wird?

Müller: Es gibt welche, die behaupten, ich hätte keine Technik gehabt, aber das ist Käse. Ich wurde 90 Minuten von zwei Mann gedeckt, und wenn ich keine Technik gehabt hätte, wie hätte ich dann die Bälle verarbeiten können? Und im Training hab ich auch gelernt, Leute auszuspielen. Da hat Branko Zebec einen Pass gespielt, und ich musste erst den Katsche Schwarzenbeck ausspielen und dann den Franz. Du kommst schon am Katsche kaum vorbei, aber dann noch am Franz! Der war ja auch ein hervorragender Zweikämpfer. Wenn der wollte, hat der kein Duell verloren.

SZ: Und gegen Sie wollte er.

Müller: Wenn ich ihn ausgespielt habe, ist er immer narrisch geworden.

SZ: Hätten Sie also auch woanders spielen können, im Mittelfeld etwa?

Müller: Mein Spiel war es nicht, da rumzurennen, aber gekonnt hätte ich das schon. Ich hab bis auf Linksaußen alles gespielt, einmal hab ich im Pokal unter Tschik Cajkovski Manndecker im Mittelfeld gespielt, gegen Overath.

SZ: Und?

Müller: Kaltgestellt natürlich... Und ein anderes Mal war ich in Hamburg eine Viertelstunde im Tor, vor 74000 Zuschauern. Der Sepp hatte sich verletzt. Und ich hab kein Tor kassiert.

SZ: Kann es sein, dass der Spielstil des FC Bayern bis zum heutigen Tag von Ihnen und Franz Beckenbauer geprägt ist?

Müller: Wie meinen Sie das?

SZ: Mit Ihnen und Ihrem Doppelpasspartner Beckenbauer hat der FC Bayern in seiner großen Zeit das Spiel durch die Mitte geprägt - ein auch heute noch gerne genommenes Stilmittel.

Müller: Das stimmt, wir hatten damals überhaupt keine Flügel, bei uns sind ab und zu die Mittelfeldspieler rechts und links raus, der Dürnberger, der Zobel, der Bulle Roth. Wir haben zwar immer Flügel gekauft wie den Klaus Wunder aus Duisburg, aber die haben nie Fuß gefasst. Aber den Wunder hat der Robert Schwan ja nur geholt, um uns zu ärgern.

SZ: Tatsächlich?

Müller: Ja, weil wir uns in unserer Spielweise so sicher gefühlt haben, der Franz und ich. Deshalb hat der Schwan absichtlich Konkurrenz geholt.

SZ: Gute Flügelstürmer hat der FC Bayern auch später eher selten gehabt.

Müller: Einmal haben sie den Del' Haye aus Gladbach geholt und dann nie spielen lassen. Es kann schon sein, dass das mit der Spielweise der Siebziger-Jahre-Mannschaft zu tun hat - weil der Stil durch die Mitte so erfolgreich war, hat man weiter so gespielt, auch als der Franz und ich nicht mehr aktiv waren. Brecher, die Flanken brauchen, hat's hier kaum gegeben. Spontan kann ich mich nur an Dieter Hoeneß erinnern.

SZ: Was halten Sie von den heutigen deutschen Stürmern?

Müller: Den Klose hab ich früher oft kritisiert, aber seit er in Bremen ist, hat er sich um 100 Prozent verbessert. Der gefällt mir jetzt richtig gut.

SZ: Kevin Kuranyi?

Müller: Ist nicht so mein Fall. Der ist elegant, aber ihm fehlt Temperament.

SZ: Lukas Podolski?

Müller: Ich hab Wolfgang Overath mal gefragt: Ist das ein richtiger Stürmer? Und Overath hat gesagt: Das ist eher ein Zurückhängender. Aber ich glaube, dass das bei dem noch kommt. Wenn der mal ganz vorne spielt und einen guten Partner hat, dann wird das ein richtig Guter.

SZ: Wenn er beim FC Bayern spielt, zum Beispiel?

Müller: Ich fänd's gut, wenn er kommt. Er und Makaay, das würde passen.

SZ: Wer gefällt Ihnen international?

Müller: Ronaldo, immer noch. Der ist auch mit Übergewicht hundsschnell und weiß, wo die Kiste steht. Der Adriano ist auch stark, der hat einen Schuss wie ein Pferd. Und der Drogba gefällt mir, der Hund, den siehst du ewig nicht, und plötzlich macht er unglaubliche Sachen.

SZ: Unter uns: Hätten die Helden von heute eine Chance gehabt gegen Katsche Schwarzenbeck?

Müller: Leicht hätten sie's nicht gehabt, denn der Katsche hatte eine besondere Eigenschaft: harte Knochen. Der hat dich nie umgehauen oder so, aber nach jedem Zweikampf hat dir alles weh getan. Da würden die Heutigen staunen.

SZ: Aha. Wahrscheinlich haben Sie also nur deshalb so viele Tore in Ihrer Karriere geschossen, weil Sie nie gegen den Katsche spielen mussten.

Müller: Ach, den Katsche, den hätt' ich schon gepackt.

© SZ vom 3.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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