Indien:Das Kind und der Marathon

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Der fünfjährige Inder Budhia Singh ist ein Laufwunder. Vor allem aber ist er das Opfer von Langstrecken-Phantasien, aus denen sein Ziehvater Geld macht.

Thomas Hahn

Die Karriere des kleinen Budhia begann damit, dass Biranchi Das ihn bestrafte. Biranchi Das ist Generalsekretär des Judoverbandes im ostindischen Unionsstaat Orissa, er schaute ab und zu nach den Kindern aus den Slums von Bhubaneshwar, der Hauptstadt Orissas, vermutlich um Talente zu suchen, und so traf er Budhia.

Der fünfjährige Inder Budhia Singh. (Foto: Foto: AP)

Aber Budhia war frech. Biranchi Das schimpfte und befahl Budhia, so lange zu laufen, bis er wiederkäme. Also lief Budhia. Aber Biranchi Das vergaß den Vorfall, und als er fünf Stunden später ans Trainingszentrum des Judoverbandes zurückkehrte, lief Budhia immer noch. Budhia war drei Jahre alt. Biranchi Das verstand, welche Chance er da vor sich hatte. Eine Sensation. Einen Marathonjungen. Und heute, zwei Jahre später, kann er sagen, dass es sich gelohnt hat. Zumindest für ihn.

Diese Geschichte ist schrecklich, ein Fall von Kindesmissbrauch, wenn man sie richtig versteht, und eine traurige Erinnerung daran, wie rücksichtslos manche Erwachsene unter dem Vorwand, das Beste für ein Kind zu wollen, ihren eigenen Vorteil suchen.

Gespenstische Angelegenheit

Von Zeit zu Zeit eskaliert die Situation um Budhia. Diesen Mittwoch zum Beispiel, als die Polizei ihn daran hinderte, bei 38 Grad Hitze einen Zehn-Tageslauf von Bhubaneshwar ins 500 Kilometer entfernte Kalkutta aufzunehmen. Und vor etwas mehr als einem Jahr stoppten ihn Ärzte fünf Kilometer vor dem Ende eines 70-Kilometer-Laufs.

Die folgenden Untersuchungen bei Budhia ergaben Unterernährung, Blutarmut und Herzrhythmusstörungen. Es sind die besseren Momente dieser Geschichte, weil sie zeigen, dass die Behörden den Jungen nicht ganz dem Wahnsinn seines Ziehvaters überlassen. Aber die Angelegenheit bleibt gespenstisch.

In den Medien erschien der kleine Budhia als "Wunderjunge", leichtathletisches Phänomen und Ausdauer-Märtyrer, zu dessen Training siebenstündige Läufe gehörten. Er hatte Auftritte im Fernsehen und in Werbespots, die Biranchi Das sicherlich einige Rupien mehr einbrachten als jene 800 (15 Euro), die er vor zwei Jahren an Budhias ersten Ziehvater, einen Straßenhändler, gezahlt hatte, um den Jungen freizukaufen; Budhia war sieben Monate alt, als sein leiblicher Vater starb, und weil seine Mutter, Sukanti Singh, mit dem Geld, das sie als Geschirrspülerin verdiente, nicht für den Unterhalt all ihrer vier Kinder aufkommen konnte, musste sie Budhia verkaufen.

"Lang lebe Budhia"

Budhia hat Fans. Im Internet findet sich manch wilder Artikel, der freies Laufen für Budhia fordert und die vermeintliche Ignoranz besorgter Jugendpolitiker tadelt. Als die Polizei diese Woche die behördliche Verfügung umsetzte, wonach extreme Kinderläufe als ,,Folter'' zu unterbinden seien, reagierten Das, Mutter Sukanti Singh und etwa 50 weitere Budhia-Fans mit wütender Widerrede und einem Sitzstreik. Biranchi Das drohte mit seinem Anwalt, die Fans sangen: "Lang lebe Budhia." Und: "Nieder mit dem Komitee für Kinder-Fürsorge."

Der Ursprung des Problems ist die Armut, in der einer Mutter jedes Mittel recht ist, um ihre Familie am Leben zu erhalten - selbst wenn es auf Kosten eines Sohnes geht. Es gibt nicht viele wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie Kinder auf extremes Ausdauertraining reagieren.

Traurige Ironie

Als seriöser Wissenschaftler will man diese Erkenntnisse auch gar nicht, weil schon die Versuchsanordnung der Wissenschaftsethik widerspräche. Außerdem ist ohnehin ziemlich klar, wohin tägliche Gewaltläufe einen Fünfjährigen auf Dauer führen: in den körperlichen und geistigen Ruin.

Ausdauertraining ist nichts für Kinder, sagt auch Dieter Eßfeld, Physiologie-Professor an der Sporthochschule Köln: "Man muss Kindern nur genügend Freiraum lassen." Kinder bewegen sich instinktiv, sie trainieren ihre körperlichen Fähigkeiten dadurch ganz von alleine und weil das Laufen technisch anspruchslos ist, muss ein Kind es auch nicht früh üben. "Viele verwechseln körperliche Leistungsfähigkeit mit Geigespielen", sagt Eßfeld. Er kennt Budhia Singh nicht. Aber seine Geschichte klingt nach einer traurigen Ironie. Hätte er kluge Erwachsene um sich, könnte er vielleicht eines Tages ein richtig guter Läufer werden.

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