Hoffen beim Eislauf:Hitzewallungen auf dem Eis

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Anni Friesinger und Claudia Pechstein bleiben über 3000 Meter zurück - und hoffen auf die nächsten Rennen.

René Hofmann

Am Sonntagabend hat es angeblich die ersten Toten gegeben. "Favoritensterben in Turin", melden die Olympia News, die Zeitschrift, die im Deutschen Haus herausgegeben wird, und dazu zeigt sie auf ihrer Titelseite ein großes Foto von Anni Friesinger, auf dem es der Eisschnellläuferin gar nicht gut geht.

Die Augen zugekniffen, den Mund verzogen, den Anzug bis zum Dekolletee aufgerissen - nach dem Lauf über 3000 Meter, der ihr Platz vier brachte, sah Friesinger schlecht aus. Sie japste nach Luft und schwitzte stark - wie Claudia Pechstein, die kurz vor ihr angetreten war und auf Rang fünf landete.

Atemnot, Schweißausbrüche - worauf kann das nicht alles hindeuten: Lungenembolie, Herzinfarkt, Fremdkörper-Aspiration, Pneumothorax, Lymphdrüsenkrebs. Das sind alles ernste Sachen, da verbieten sich Scherze, weshalb an dieser Stelle mitgeteilt sei: Ganz so schlimm, wie es den Anschein hatte, sieht es doch nicht aus.

Trainer Markus Eicher berichtete am Montagmorgen aufgeräumt, die Totgesagte habe am Abend noch ein leichtes Mahl zu sich genommen, die Nacht gut überstanden und dürfe auch schon wieder leicht das Ergometer treten. Das erste Wiedersehen mit dem Eis, das sie so leiden ließ, ist für den heutigen Dienstag geplant.

Dort wird Friesinger auch Claudia Pechstein wiedersehen, über die es ähnlich Erfreuliches zu berichten gibt: Lebensgefahr gebannt, der Wettkampf geht weiter; am Donnerstag, im neu eingeführten Teamlauf, sind die angeblich Gestorbenen dann schon wieder Favoriten.

Es gehört zu den Spielregeln bei Olympia, dass niemand nur für sich antritt. Die Athleten, die Trainer und Betreuer - alle tragen die gleichen Jacken, und auf den meisten steht der Name der Nation. Manchmal sogar in Großbuchstaben. Bei den Deutschen steht GERMANY, bei den Franzosen FRANCE, bei den Russen RUSSIA.

Nicht nur an Sportlern und Betreuern sind die Jacken zu sehen, auch auf den Presse- und den Zuschauertribünen tauchen sie auf. Wer keine Jacke bekommt, versucht das zu kaschieren, indem er sich eine Fahne umhängt, oder davon abzulenken, indem er sich die Farben seiner Heimat ans Revers pinnt oder auf die Wange malt. Olympia, das ist irgendwie eine nationale Angelegenheit, was bei unerwarteten Niederlagen leicht zu einer Überreaktion führt, zu Hitzewallungen und Hypernervosität.

Wüst stapft los

9,3 Millionen Deutsche verfolgten am Sonntagabend die Olympia-Übertragung der ARD. Das waren 800000 mehr, als sich für die Eröffnungsfeier interessiert hatten. Seit 34 Jahren hatten die deutschen Frauen über diese Distanz zuverlässig Medaillen gesammelt. Claudia Pechstein trat als Titelverteidigerin an. Anni Friesinger war beim Weltcup in Turin über die Strecke die Schnellste gewesen.

Der Erfolg schien so unvermeidlich wie die Leiche im Tatort, der ansonsten um diese Uhrzeit kommt. Für die überraschende Wende sorgten zwei Niederländerinnen. Die 19 Jahre alte Ireen Wüst stapfte früh am Abend los, als müsse sie bloß die halbe Distanz bewältigen. Es war warm in der Halle. Das Eis glitt nicht so gut wie im Training.

Wüst lag das. Sie kämpft gerne gegen Widerstände an. In Salt Lake City und in Calgary, auf den Bahnen, die alle anderen so mögen, weil sie in besonders dünner Höhenluft liegen, hat sie noch nie geglänzt. Im tiefen Turin lief sie allen auf und davon.

Ihre ersten Runden waren extrem schnell, danach baute sie ab, aber ihr schlechtester Umlauf war immer noch zu gut für Friesinger, Pechstein und all die anderen, die danach kamen. Silber ging an Wüsts Teamkollegin Renate Groenewold, Bronze an Weltrekordlerin Cindy Klassen aus Kanada. Daniela Anschütz aus Erfurt wurde Sechste. "Es war extrem warm, da hat der Anzug ganz schön gespannt", klagte Anni Friesinger. "Ich hatte Probleme mit dem Sauerstoff", sagte Claudia Pechstein.

So ganz konnten die beiden die Niederlage nicht erklären, so ganz konnten sie aber auch die Aufgeregtheit nicht verstehen, die ihnen entgegenschlug. Von Wunderkufen war die Rede, die die Holländerinnen nach vorne gebracht haben könnten und von einem zentralen Nationalteam, in dem künftig alle deutschen Spitzenläufer zusammen trainieren sollen.

"Bisher sind wir mit dem Prinzip der fruchtbaren Konkurrenz ganz gut gefahren", versuchte Günter Schumacher, der Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft, der Diskussion etwas Schwung zu nehmen. "So weit ich weiß, läuft nur ein Niederländer mit dem neuen Material - und das ist ein Mann", sagte Anni Friesinger zur Kufenfrage.

Die Abstände zu den Medaillenrängen waren knapp, die 3000 Meter waren im Weltcup hart umkämpft gewesen. So flugs wie Pechstein auf die Hoffnungen verwies, die sie an die 5000 Meter knüpft, brachte Friesinger die Chancen zur Sprache, die sich ihr über 1000 und 1500 Meter noch bieten.

"Ich weiß, dass sie hier etwas gewinnen wird", sagte ihr Trainer Markus Eicher, der das Sagen hat, wenn sich die deutschen Frauen zum Team zusammenfinden. Zu den Aussichten im Mannschaftslauf fiel ihm ein: "Unsere Mädels sind so stark, dass sie jeden Gegner schlagen können." Beim ersten Auftritt am Mittwoch wird er deshalb Daniela Anschütz, Sabine Völker und Lucille Opitz einsetzen. Claudia Pechstein und Anni Friesinger sollen erst danach ran. In der K.o.-Runde.

© SZ vom 14.2.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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