Hockey-EM der Frauen:Die Zahnärztin im Tor behält die weiße Weste

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Jubel im Heimstadion. Torhüterin Julia Sonntag (rechts) feiert mit Teamkolleginnen bei der EM in Mönchengladbach. (Foto: Thomas Haesler/Eibner / imago)

Ein 4:0 und ein 5:0: Das deutsche Team strebt dem Gruppensieg entgegen und will dem Favoriten Niederlande im Halbfinale aus dem Weg gehen. "Da ist noch eine Rechnung offen", sagt Julia Sonntag.

Von Ulrich Hartmann, Mönchengladbach

An einem Tag, der ganz unzweifelhaft nach ihr benannt war, absolvierte die Hockey-Torhüterin Julia Sonntag zusammen mit der deutschen Nationalmannschaft eine der bislang schönsten Ehrenrunden ihrer Karriere. Die 31 Jahre alte Mönchengladbacherin, die in ihrer Heimatstadt als Zahnärztin arbeitet, hat sich zweieinhalb Wochen freigenommen, um im örtlichen Hockey-Stadion an der Europameisterschaft teilzunehmen. Weder beim 4:0-Sieg gegen Schottland im ersten Gruppenspiel am vergangenen Freitag, noch beim 5:0-Sieg gegen England im zweiten hat sie ein Gegentor zugelassen. Auf der Ehrenrunde am Sonntagabend winkte sie immer wieder ins Publikum, entdeckte Familie, Freunde und Patienten und sagte hinterher: "Das ist alles fast zu schön, um wahr zu sein."

Und doch, es ginge schon noch schöner: wenn die deutschen Hockey-Frauen am kommenden Samstag Europameister würden. Vor dem letzten Gruppenspiel an diesem Dienstag gegen Irland hat die Mannschaft den Gruppensieg bereits so gut wie sicher, was bedeutet, dass sie im Halbfinale wohl dem amtierenden Europameister, Weltmeister und Olympiasieger Niederlande aus dem Weg ginge. 2019 und 2021 verlor Deutschland die vergangenen beiden EM-Endspiele gegen just diese Niederländerinnen. "Da ist noch eine Rechnung offen", sagt Julia Sonntag lächelnd.

Hockey war für die deutschen Frauen und die Torhüterin Sonntag in den vergangenen Jahren nicht immer nur schön. Bei Olympia 2021 verpassten sie ebenso knapp eine Medaille wie im Vorjahr bei der Weltmeisterschaft. Hinzu kamen jene beiden EM-Finalniederlagen gegen die Niederlande. Bei den Heimspielen in Mönchengladbach lassen sich die Spielerinnen deshalb nun gern ein bisschen die Seele streicheln.

Dies gelang mit den beiden deutlichen Auftaktsiegen ebenso gut wie mit den Szenen kurz vor dem England-Spiel, als im Gladbacher Hockey-Stadion auf einer Bühne am Spielfeld als Unterhaltungsprogramm zwischen zwei Spielen die 'Höhner' aus Köln live ihre größten Hits sangen, während sich die deutschen Spielerinnen gerade warmliefen. "Ich spiele seit zwölf Jahren für Rot-Weiß Köln", sagt Julia Sonntag, "ich kenne die Lieder und die Texte und fand's cool, dass die Höhner uns beim Aufwärmen live begleitet haben."

"Wir wollen alle Mannschaften schlagen", sagt der Bundestrainer - vom Titel sprechen will er nicht

"Wenn nicht jetzt, wann dann?", sang die Band unter anderem einen ihrer größten Hits, und diese Frage nehmen die Hockey-Frauen jetzt auch persönlich. "Am Ende wollen wir hier alle Mannschaften schlagen", sagt Sonntag, die von Bundestrainer Valentin Altenburg für ihre bislang fehlerlosen Vorstellungen genauso ein Lob erhielt wie die Feldspielerinnen für ihre Geduld und Hartnäckigkeit, denn gegen England ließen sie sich mit dem Toreschießen bis zur 38. Minute Zeit. Danach fielen die fünf Treffer wie reife Früchte.

Die Hamburgerin Jette Fleschütz mit zwei Toren und die Pfälzerin Sonja Zimmermann mit drei verwandelten Strafecken sind nach zwei Spielen die besten deutschen Torschützinnen. Für Zimmerman, die beim HC Bloemendaal in den Niederlanden spielt, geht mit dieser Heim-EM ein "Kindheitstraum" in Erfüllung. Bei der Nationalhymne im Auftaktspiel habe sie ihre Augen geschlossen und den Moment einfach nur genossen. Sie verwaltet gewissermaßen das Vermächtnis ihrer Kindheitshelden Natascha Keller und Fanny Rinne, die sie 2004 im Fernsehen Olympiasiegerinnen werden sah. "Nur deshalb habe ich überhaupt mit dem Hockeyspielen angefangen", sagt Zimmermann.

Als 2011 in Mönchengladbach letztmals eine Heim-EM stattgefunden hatte, feierte die deutsche Rekord-Nationalspielerin Keller ihren Abschied vom heimischem Publikum. Auch damals verloren die deutschen Frauen das Endspiel gegen die Niederlande, und wenn man Sonja Zimmermann heute fragt, ob diese Niederländerinnen denn eigentlich überhaupt zu besiegen sind, dann setzt sie ihr breitesten Grinsen auf und sagt geradezu verschwörerisch: "Das sehen wir dann!"

Der EM-Titel wäre übrigens vonnöten, um sich bereits jetzt für Olympia 2024 in Paris zu qualifizieren. Vom Titel spricht der Bundestrainer Altenburg allerdings bewusst nicht. Er stellt die Leistungen der Mannschaft in den Vordergrund - nicht die Ergebnisse. "Wir entwickeln", sagt der 41 Jahre alte Hamburger, "wir entfalten Potenzial." In dieser Woche wird sich zeigen, wie weit diese Entwicklung ist. Altenburg bleibt entspannt: "Wenn wir uns jetzt noch nicht für Olympia qualifizieren, dann halt nächstes Jahr", sagt er sehr gelassen. Dann finden Qualifikationsturniere statt.

Olympia wäre auch für Julia Sonntag noch mal ein höchst lohnenswertes Ziel, eine solche Medaille fehlt ihr noch. "Man spielt Hockey, um zu gewinnen", sagt sie. Für irgendetwas muss sich die Zusatzbelastung zum Zahnarztjob ja lohnen.

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