Hockey:Die Ruhe behalten

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(Foto: Horstmüller/imago)

Die Kölnerin Julia Sonntag, 29, war zuletzt mehr als Zahnärztin gefragt denn als Hockey-Nationaltorhüterin - das ändert sich nun wieder.

Von Volker Kreisl, München

Der Kopfschutz ist wichtig im Hockey. Da tragen die Torhüter einen dichten Rundum-Helm, als wären sie Motocrosser. Eine Haube bedeckt den Schädel, ein Metallgitter das Gesicht, Mund und Kiefer werden von einer Karbonschürze abgeschirmt. Aber, wendet Torfrau Julia Sonntag ein, das Gittermaterial werde irgendwann brüchig, dann kann man sich die Nase brechen, wie es neulich einer Kollegin passiert ist - dennoch, im Großen und Ganzen sind die Torhüter sicher.

Stattdessen kümmert sich Julia Sonntag nach dem Spiel manchmal um die Feldkolleginnen, die ohne Gitter spielen. Prüft den stabilen Sitz der Schneidezähne, checkt blaue Flecken am Kiefer. Getragen wird zwar ein Zahnschutz, aber ein Hockeyball kann sehr schnell heranzischen und wiegt doch auch 160 Gramm. Manchmal empfiehlt sie dann weitere Maßnahmen oder aber gibt Entwarnung, woraufhin man ehrlich erleichtert sein darf, denn die Torfrau Julia Sonntag ist Zahnärztin.

Dafür, dass die 29-Jährige seit vier Jahren praktiziert, ist sie auch im Sport weit gekommen. Sie steht beim Bundesligisten Rot-Weiß Köln zwischen den Pfosten, knapp vier Jahre lang ist sie bereits Nationaltorhüterin, sie wurde Hallenweltmeisterin 2018 und EM-Zweite im Feld 2019. Und nun, da auch im Hockey die Corona-Beschränkungen im Training endlich gelockert werden, kann Julia Sonntag die lange Vorbereitung aufnehmen für ihre zweiten Olympischen Sommerspiele, diesmal nicht als Ersatz wie in Rio de Janeiro 2016, sondern als Stammkeeperin.

Somit ist sie abwechselnd in gegensätzlichen Welten unterwegs - in einer hochleistungssportlichen, in der nach wie vor Zähne zu Bruch gehen, und in einer beruflichen, in der Zähne repariert werden. Aber ist das tatsächlich eine bizarre Konstellation? Oder ist das gar kein Widerspruch, weil man für beide Jobs sogar ähnliche Tugenden braucht?

Hockey im Verein hat Julia Sonntag schon im Alter von sechs Jahren gespielt, damals noch auf kleine, ungehütete Tore. Dann wurde sie älter, und wie es so ist, eine Torhüterin wurde gesucht, jede musste es mal probieren. Unter Mädchen, sagt sie, ist der Posten nicht gerade begehrt. Denn man muss nicht nur einen Vollhelm tragen, sondern schwitzt auch unter einem Brust-, Oberarm-, Ellbogen-, Unterarm-, Hand- und Oberschenkelschutz, spielt also "unter stinkenden Kleidern", wie sich Sonntag erinnert, "statt im Röckchen". Trotzdem hat sie sich dafür entschieden.

Denn der Platz vor dem 3,66 Meter mal 2,14 Meter großen Kasten hat ihr gefallen. Julia Sonntag sagt, sie brauche nicht die große Aufmerksamkeit wie die Feldspieler, sie fühle sich ganz wohl in ihrer Verpackung auf ihrem Posten: "Für mich ist es wichtig, im Hintergrund der Mannschaft zu sein." Dort steht sie, beobachtet das Geschehen, das Passspiel, die auf sie zurollenden Angriffe, erstellt eine Diagnose für die Gefahrensituation und kalkuliert die angezeigten Gegenmaßnahmen. Und weil ihre Entscheidungen meist die richtigen waren, hat sie im Team den Ruf, nie die Ruhe zu verlieren. "Ich finde, es bringt nichts, herumzuschreien und die Mannschaft zu verunsichern", sagt sie. Die Ruhe zu bewahren, das braucht sie in beiden Welten.

Damit war sie wenige Monate vor Olympia 2016 in den erweiterten Kreis des damaligen Bundestrainers Jamilon Mülders gekommen. Sonntag stand hinter Yvonne Frank und Kristina Reynolds als dritte Keeperin im Nationalteam und reiste mit nach Rio. Es wurde zunächst der übliche Trip einer jungen Olympia-Ersatzathletin mit lauter neuen Eindrücken, mit Bewunderung für die routinierten älteren Kolleginnen und irgendwann dem Eingeständnis, dass man an denen, die da gerade die Bronzemedaille geholt hatten, so schnell nicht vorbeikommt. Aber nach Rio traten Frank und Reynolds plötzlich zurück, und Julia Sonntag war Nationaltorhüterin.

Im Frühjahr drauf löste der Belgier Xavier Reckermann dann Mülders ab, und aus dem jungen Team formierte sich allmählich eine immer schlagkräftigere Mannschaft. Sie überzeugte nicht nur bei der Europameisterschaft, sondern auch in Pro-League- und Olympia-Qualifikationsspielen. Nun gilt das Team als Medaillenkandidat für die Spiele, die eigentlich in sechs Wochen in Tokio beginnen sollten, und dürfte dies auch bei der um ein Jahr verlegten Olympiavariante noch sein. Im Rücken: Julia Sonntag, die aber in den Wochen der Beschränkungen doch weniger Torfrau als Zahnärztin war.

Aus diversen Gründen hatte sie sich für diesen Beruf entschieden. Er verlangt handwerkliches Geschick und entspricht ihrem Interesse an Naturwissenschaften. Und schon früh hatte sie Einblicke in den Job bekommen, weil ihr Vater selber Zahnarzt ist, aber vor allem, sagt sie, sei eines wichtig: Man könne "Menschen wirklich weiterhelfen". Dafür muss man jedoch der Verantwortung gerecht werden, für hilflose Patienten, die sich oft nur denken: Mach was! Hauptsache, der Schmerz ist weg.

Im Tor ist das ähnlich. Der Keeper muss sich das Vertrauen der anderen im Team erarbeiten, die vorne in Ruhe spielen wollen, ohne diffuse Sorgen vor Patzern hinten. Julia Sonntag sagt: "Wenn's drauf ankommt, dann muss man da sein." Im Rücken ihrer Mannschaft steht sie also auf dem letzten Posten und sieht Gegnerinnen, die heranstürmen, die Penalties ausführen oder Strafecken schlenzen, während die anderen denken: Mach was, Hauptsache, der Ball ist weg.

© SZ vom 14.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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