Hintergrund:Der Zweifel wohnt im Oberschenkel

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Wie die Franzosen die Niederlage gegen Senegal verarbeiten: Warten auf den Einsatz von Zinedine Zidane.

Ralf Wiegand

(SZ vom 3.06.2002) - Am Tag danach, über den Dächern von Seoul. Sie haben es schön, die Franzosen, sie können den Han-gang sehen, der sich unten durchs Tal wälzt und an seiner breitesten Stelle einem Binnenmeer ähnlicher ist als einem Fluss. Bei Dunst sieht man das andere Ufer kaum. Auf der Straße vom Achasan-Gebirge hinunter in die Stadt stauen sich die Autos, Samstag ist der Ausflugstag für die Koreaner, die jetzt zurückkehren, Kajaks auf den Dächern und Picknickkörben im Kofferraum.

Auf ihn schaut ganz Frankreich (Foto: N/A)

Manche lehnen sich mit dem Oberkörper weit aus dem Seitenfenster, um einen Blick aufs Trainingsgelände am Straßenrand zu werfen, auf das die vielen Polizisten und Absperrgitter sie aufmerksam gemacht haben. Oder sie knipsen den lebenden Hahn, den ein Anhänger der Blauen zu jedem Spiel mit ins Stadion nimmt. Jetzt darf das Federvieh im schmalen Grün des Straßenrandes rasten. Er sieht gar nicht so gerupft aus, wie sich vermuten ließe nach einem "Donnerschlag im Weltfußball", den die Zeitung Le Parisien gehört haben will.

Ende der Siegeskultur?

Frankreich - Senegal 0:1. Im weißen Zelt auf dem Gelände des LG Champions Park, das den Medien als Hauptquartier gilt, während sie über die Trainingsstunden des Weltmeisters berichten, rauscht monoton die Klimaanlage und untermalt den trägen Vortrag von Roger Lemerre. "Das ist das Ende der Siegeskultur dieser Mannschaft", raunt der französische Nationaltrainer.

Die Nachrichtenagenturen schicken spektakuläre Zahlen zu diesem Zitat über den Ticker. Frankreich hat zum ersten Mal seit 1986, als es im Halbfinale von Mexiko Deutschland unterlag, ein Weltmeisterschaftsspiel verloren; dass Les Bleus 1990 und 1994 bei den Endturnieren gar nicht mitspielten - eine Fußnote.

Das Ende der Siegeskultur kam an der Mittellinie. Emanuel Petit verlor bei der Annahme den Ball. Diouf, der schnelle, blonde El-Hadji Diouf, kam linksaußen in Position, lief spielend an dem französischen Abwehrchef Frank Leboeuf vorbei, flankte in die Mitte. Dort stand wieder Petit, diesmal spitzelte er den Ball unglücklich um den eigenen Torwart, lenkte ihn zu Pape Bouba Diop, der das Tor schoss. 18 Stunden später sitzt Emanuel Petit, den blonden Pferdeschwanz akkurat gekämmt, im ärmellosen Trainingsshirt vorne auf dem Podium, ein freundlicher Mann mit den Manieren und den Muskeln eines Musketiers. Er sagt: "Das ist doch nicht das Ende, das ist der Anfang." Er meint: Das Turnier ist noch lang.

Nur Frankreichs Medien befürchten: Es könnte der Anfang vom Ende gewesen sein. Fehlenden Spielwitz, Apathie, die Unfähigkeit, Zweikämpfe zu gewinnen und somit "begründete Zweifel an der WM-Zukunft dieser Mannschaft" meldete La Liberté de l'Est entsetzt nach Hause.

Fragezeichen hinter Zidane

Der Zweifel wohnt vor allem im linken Oberschenkel von Zinedine Zidane, genauer, im Quadrizeps des linke Oberschenkels. Dort ist eine Muskelfaser gerissen. Zidane, Zizou, ist scheinbar noch ein bisschen größer und mystischer geworden, indem er nicht spielte gegen Senegal. Youri Djorkaeff hatte ihn nicht ersetzen können in seiner Funktion als guter, kluger Geist der Mannschaft, nun ist die Sehnsucht nach Zidanes Rückkehr ins Team noch weiter gewachsen.

Zidane, 29, trainiert aber noch immer nicht, und Trainer Lemerre erwartet auch nicht, dass er am Donnerstag gegen Uruguay wird spielen können: "Es würde mich sehr überraschen, wenn er vor dem Spiel wieder mit dem Team trainierte", sagt Lemerre desillusioniert. Aber die Franzosen werden lieber dem Teamdoktor Jean-Marcel Ferret Glauben schenken, der ein Comeback schon gegen die Südamerikaner für möglich hält: "Die nächsten zwei, drei Tage entscheiden."

Kein unnützes Herumreden

Alles in allem herrscht trotzdem keine große Aufregung draußen in den Bergen von Guri, vor den Toren von Seoul. Noch glauben die französischen Spieler an die einfache Lösung ihres Problems: Sie müssten nur jener Block bleiben, als der sie seit vier Jahrem jedem Angriff trotzen. Sie sind das beste Kollektiv des Weltfußballs, und als solches müssen sie verkraften können, dass Leboeuf als Befehlsgeber der Abwehr schwächer ist als sein Vorgänger Laurent Blanc, dass Zidane eine Blessur hat.

"Wir müssen als Mannschaft bestehen, wir müssen auf dem Platz eine Einheit sein", verlangt Emanuel Petit. Das habe schließlich auch Staatspräsident Jacques Chirac übermittelt: Haltet zusammen. "Und wir dürfen nicht unnütz herumreden", fügt Petit an. Auch nicht über Zidane.

Aber es ist nun einmal so: Die Furcht vor einem Frankreich mit dem inzwischen Sagen umwobenen Künstler ist ungleich größer als vor einem Frankreich wie am Freitag. Uruguays Spielmacher Alvaro Recoba drückt das so aus: "Als Fußballfan muss ich sagen, dass für die Zuschauer besser wäre, er würde gegen uns spielen. Aber in unserem Interesse ist, dass er es nicht tut. Ich hoffe, dass Zidane nicht spielt, denn gegen Senegal hat man gesehen, welchen Unterschied das macht."

Statistik speist Aberglaube

Also geht es vor allem um Zidanes Oberschenkel, links. Vielleicht wird er über den Mythos Frankreich entscheiden, vielleicht aber auch nur der durch die Statistik gespeiste Aberglaube. Noch nie ist eine Mannschaft Weltmeister geworden, die das erste Gruppenspiel verloren hat. "Wir wussten vorher auch, dass noch nie eine Mannschaft aus Europa zweimal hintereinander Weltmeister geworden ist", sagt Marcel Desailly, "aber wir müssen weiter daran glauben, weil wir noch die Chance haben." Und weil sie das stolze Frankreich sind. Der Weltmeister. Noch.

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