Hillsborough-Katastrophe:"Die Seele verkauft"

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Hamann, Bode, Lienen: Die Ex-Profis üben in einer Diskussion mit dem englischen Romanautor Kevin Sampson im Millerntorstadion Grundsatzkritik am Fußball von heute. Will man das Spiel retten oder es zum Dukatenesel für die Großen machen?

Von Jörg Marwedel, Hamburg

Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse: Das ist im Prinzip das Motto der Aktion "Lesen ohne Atomstrom", die gerade zum achten Mal in Hamburg mit sehr prominenten Schriftstellern über die Bühne geht. Am Dienstagabend war der englische Romanautor Kevin Sampson im Millerntorstadion des FC St. Pauli zu Gast. Er ist Fan des FC Liverpool und war dabei, als am 15. April 1989 beim FA-Cup-Halbfinale zwischen Nottingham Forest und seinem Klub im Hillsborough-Stadion in Sheffield 96 Menschen starben.

Erst 23 Jahre später wurde offiziell festgestellt, dass die Polizei der Hauptschuldige an diesem Unglück war und nicht die Fans. Der Polizeichef wurde noch angeklagt, und Premierminister David Cameron entschuldigte sich.

Sampson hat das Buch "Hillsborough Voices" geschrieben, in dem auch Liverpool-Spieler zu Wort kommen. Den früheren FC-Torjäger John Aldridge zitiert er so: "Fakt ist, dass an jenem Tag der Fußball starb." Auch Sampson versucht Widerstand zu leisten gegen Entwicklungen, die ihm den Fußball, zu dem er einst ein euphorisches Verhältnis hatte, kaputt gemacht haben. Knapp 30 Jahre nach der Katastrophe ist das Thema nicht nur Geschichte. Werder Bremens Aufsichtsratschef Marco Bode, St. Paulis Technischer Direktor Ewald Lienen, der frühere Liverpool-Profi und heutige TV-Experte Dietmar Hamann sowie der Präsident des FC St. Pauli, Oke Göttlich, diskutierten mit Sampson über die Auswirkungen des Dramas bis heute.

Ihre Bestandsaufnahme sollte auch den Funktionären in Deutschland zu denken geben. "Die Premier League hat ihre Seele verkauft", sagt Hamann, der von 1998 bis 2009 in dieser Liga spielte. Zum Beispiel, indem man nach dem Unglück die Stehplätze verbot, weil letztlich eben doch die Fans verantwortlich gemacht wurden. Stattdessen sei ein Fußball-Tourismus entstanden. Event-Liebhaber aus Asien oder Südamerika würden bis zu 1500 Pfund für ein Ticket zahlen, berichtet Hamann, der "Fan vor der Haustür" sei auf der Strecke geblieben. Wie Sampson ("Ich sehe kaum noch Kids") stellt sich auch Pauli-Vorstand Göttlich die Frage, wie man die Jugend noch ins Stadion bekommt. Und das, obwohl die Eintrittspreise hierzulande noch bescheiden sind und das eigene Stadion fast immer ausverkauft ist.

Nun komme, sagt Hamann, auch in Deutschland eine "richtungsweisende Phase". Nämlich, ob man der geldgierigen "Spinnerei" der englischen Macher nacheifere oder nicht. In England sei inzwischen bei den Matches "eine Stimmung wie bei Unterhaching", spottet Hamann - auch wenn er sich, wie er einschob, deshalb eine Rüge von Manfred Schwabl einfing, dem Präsidenten des Drittligisten. Auch dem FC Bayern wird nicht gefallen, was der frühere Bayern-Nationalspieler noch vorschlägt außer seinem Plädoyer für die deutsche 50+1-Regel, die es Konzernen untersagt, die Mehrheit in einem Klub zu übernehmen. Um den Fußball nicht komplett zum Spielball des Kapitalismus zu machen und ein Stück Gerechtigkeit zurückzubringen, schlägt Hamann vor: Jeder Bundesligaklub solle das Gleiche aus dem Fernseh-Erlöstopf erhalten und "nicht Freiburg acht und die Bayern 80 Millionen".

Das könne natürlich dazu führen, "dass wir keine Mannschaft mehr im Viertelfinale der europäischen Wettbewerbe haben", weil die Spitzenklubs über deutlich weniger Geld als die Konkurrenz im Ausland verfügen, sagt er. Aber was will man: das Spiel retten oder es zum reinen Dukatenesel für die Großen machen? "Didi will offenbar nicht mehr Manager bei Bayern werden", witzelte Lienen, Bode erwiderte: "In Bremen könnten wir ihn gebrauchen."

Die Ex-Profis Bode, Lienen und Hamann waren sich besonders in einem einig: Fans könnten viel erreichen, wenn sie sich zusammentun. So wie damals in Liverpool, als man gegen die Erhöhung der Ticket-Preise auf 77 Pfund protestiert habe. Damals, erzählte Sampson, hätten 20 000 FC-Fans das Anfield-Stadion während eines Spiels verlassen. Der Preisanstieg wurde zurückgenommen.

© SZ vom 24.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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