Hannover:Leicht wie Tangotänzer

Lesezeit: 3 min

Glückwunschbekundungen an der Eckefahne: Uffe Bech (links) lässt sich für seinen Treffer nach einem sehenswerten Konter von den Hannoveraner Kollegen feiern. (Foto: Nigel Treblin/Getty Images)

Bei 96 ergibt sich die kuriose Situation, dass der Handlungsbedarf bezüglich neuer Spieler gar nicht so groß erscheint wie befürchtet.

Von Carsten Eberts, Hannover

Wo plötzlich diese Jubelschreie herkamen, war schwer auszumachen. Der Kabinentrakt von Hannover 96 ist schließlich selten eine Partyzone; hier suchen Spieler konsterniert nach Worten für das, was nicht funktioniert hat, wie es die Mannschaft schaffen konnte, sich "selbst ins Knie zu schießen", wie es Trainer Michael Frontzeck ausdrückt. Doch sie waren da: eindeutig Jubelschreie. Es klang wie "Juhuhuuuu" oder auch "Jihaaaa".

Es könnte Hiroki Sakai gewesen sein, der Japaner, der kurz zuvor feixend vorbeigezogen war. Oder der Brasilianer Marcelo, der mit seinem Kopfballtreffer nach fünf Minuten den Stimmungsumbruch eingeleitet hatte. Es sei "einfach mal ein schönes Gefühl, nach Hause zu fahren und rundum zufrieden zu sein", erklärte Nationalkeeper Ron-Robert Zieler. Das 4:0 gegen Ingolstadt kam derart unerwartet daher, dass die Emotion raus musste.

Um es in aller Deutlichkeit festzuhalten: Hannover hatte verdient gewonnen, auch in dieser Höhe, es hatte die Kritiker überrascht, auch sich selbst. Man habe sich auf ein "schmutziges Spiel" eingestellt, ließ Kapitän Christian Schulz wissen, weil sich Ingolstadt ja gerne tief reinstelle und auch ein den Spielaufbau erstickendes Foulspiel nicht scheue. Doch Hannover hat diesen tief stehenden, foulenden Aufsteiger einfach überrannt. Schon nach 26 Minuten stand es 3:0, Ingolstadts Trainer Ralph Hasenhüttl gestand, dass sein Team in dieser Saison "noch nie so unterlegen war wie heute". "Einfach nur schlecht", befand auch Torhüter Ramazan Özcan.

Ingolstadt hatte zuvor schon elf Punkte auf fremdem Rasen geholt, was für einen Aufsteiger ein starker Wert ist. Diesmal lief alles gegen die Bayern. Nach fünf Minuten konnten Hübner und Bauer den zum Kopfball aufsteigenden Marcelo nicht stoppen, drei weitere verlorene Zweikämpfe später stand es gar 2:0. Über den umsichtigen Artur Sobiech kam der Ball zu Kenan Karaman, der sich in Hannover immer wohler fühlt. Mit der Leichtigkeit eines Tangotänzers ließ er Tobias Levels aussteigen. Sein Flankenball erreichte Leon Andreasen, der nur noch einzuköpfeln brauchte. "Hervorragend", urteilte Zieler aus der Ferne, das Team traue sich mehr und sei "auch spielerisch stärker geworden".

Auch die Fans waren verwundert und stolz - sie sangen einträchtig "Kling, Glöckchen, klingeling"

Als Beweis diente das 3:0, das illustrierte, was mit einer Zwei-Tore-Führung plötzlich möglich ist. Diesmal durfte Zieler nicht nur zuschauen, sondern mitmachen: Sein weit abgeworfener Ball erreichte Sobiech, der durchs Mittelfeld schlenderte und das Spielgerät erneut zu Karaman brachte. Der sah, dass Ingolstadts Özcan zu weit vor dem Tor stand; der Ball sprang kurz vor seinem Schuss unglücklich auf, doch Karaman schickte ihn vom Schienbein in hohem Bogen ins Netz. Als in der 85. Minute auch noch das 4:0 fiel - Uffe Bech schloss einen Konter ab - durfte sich auch Frontzeck in einen neuen Gefühlsmodus begeben. Ein solches Spiel hatte er in den sechs Monaten als 96-Coach nicht erlebt, es waren kürzlich sogar so viele deprimierende Nachmittage dabei, dass sich Klubchef Martin Kind zu einem seiner Ultimaten hinreißen ließ. "17 oder 20 Punkte" zum Jahreswechsel seien sein Wunsch, hatte Kind gesagt, was für Hannover, das bei elf Zählern stand, angesichts des Restprogramms aus Ingolstadt, Schalke, Hoffenheim und den Bayern sportlich anmutete.

Nun scheint die Kindsche Vorgabe für Frontzeck wieder machbar. Der Trainer plauderte darüber, wie schön es sei, "sich in der 88. Minute hinzusetzen und zu wissen, dass nichts mehr passieren kann". So ergibt sich bei 96 die kuriose Situation, dass der Handlungsbedarf, den der neue Sport-Geschäftsführer Martin Bader ausgemacht hat, nicht so groß erscheint wie befürchtet. Eigentlich galt es, sich bis zur Winterpause durchzumogeln; der bislang als nur als bedingt bundesligatauglich eingestufte Kader sollte dann verstärkt werden. Nürnbergs Alessandro Schöpf gilt als Kandidat für die zentrale Offensive, der israelische Stürmer Eran Zahavi wurde ebenfalls beobachtet. Gegen Ingolstadt überraschte vor allem die gescholtene Offensive: Mit frühem Pressing stellte Hannover die Ingolstädter vor schwere Aufgaben, die sich bietenden Chancen - drei Tore fielen nach Kontern - nutzte 96 kühl und kombinationssicher. Das Team habe gezeigt, dass es "auch fußballerisch über die volle Distanz den Gegner dominieren kann", erklärte Kapitän Schulz, nicht ohne Stolz.

Stolz waren auch die Fans, und verwundert. Sie rieben sich die Augen, der Stadionsprecher hatte sie aufgefordert, mit dem Zusatz: "Das ist kein Traum, das ist Wirklichkeit." Auf der Gegengerade wurde eine La Olà gesichtet. Und während die Spieler in der Kabine "Juhuhuu" oder "Jihaaaa" brüllten, sangen die Fans "Kling, Glöckchen, klingeling."

© SZ vom 30.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: