Handball:Spiel des Lebens

Lesezeit: 3 min

Allein schon bei dem Wort Viertelfinale werden bei den deutschen Handballern unangenehme Erinnerungen wach, beim Gegner sowieso. In der Runde der letzten acht trifft Deutschland auf Spanien - und Stefan Kretzschmar muss eine vier Jahre alte Rechnung begleichen.

Christian Zaschke

Viertelfinale - das Wort klingt in den Ohren der deutschen Handballer gelinde gesagt: nicht so schön. Es ist ein Wort, bei dem sofort Erinnerungen wach werden, Jahreszahlen steigen auf, vielleicht nicht wie böse Geister, aber doch wie eine Ermahnung, wie ein Flüstern: Ihr könnt jetzt scheitern, das ist euch schon so oft passiert.

1999, Weltmeisterschaft, Niederlage im Viertelfinale gegen Jugoslawien. 2000, Olympische Spiele, Niederlage im Viertelfinale gegen Spanien. 2001, Weltmeisterschaft, Niederlage im Viertelfinale gegen Frankreich. Die Deutschen trugen den in einer Mischung aus Mitleid und Häme verliehenen Titel "Bester Viertelfinalist der Welt", und am heutigen Dienstag steht wieder so ein Spiel an: 2004, Olympische Spiele, Viertelfinale gegen Spanien (18.30 Uhr im ZDF).

Nach der WM 2001 haben die Deutschen einiges dafür getan, den Makel der verlorenen Viertelfinalspiele wettzumachen, bei der EM 2002 scheiterten sie erst im Finale, gleiches erreichten sie bei der WM 2003. Bevor nun jemand den neuen Titel für den besten unterlegenen Finalisten verleihen konnte, gewann sie zu Beginn dieses Jahres die EM in Slowenien. Seitdem gelten die Deutschen als Goldfavorit bei den Olympischen Spielen. Nun haben sie allerdings in der Vorrunde zweimal verloren, knapp gegen Ungarn (19:20), deutlicher gegen Frankreich (22:27), und die Frage steht im Raum, was von diesen Niederlagen bleibt und ob die Mannschaft verunsichert ist.

Angstgegner Spanien

Vor dem Turnier hatte Kapitän Markus Baur über mögliche Viertelfinal-Gegner spekuliert. "Hauptsache nicht Kroatien", sagte er, einfach weil die Weltmeister-Mannschaft aus Kroatien sehr gut in Form ist, was sie beim lockeren 30:22-Sieg gegen Spanien in der Vorrunde bewies. "Am liebsten", sinnierte Baur, "wäre uns Spanien, da haben wir eine Rechnung offen."

Auf den ersten Blick erscheint der Wunsch, gegen Spanien zu spielen, unsinnig, denn gegen die Spanier haben die Deutschen eine Serie von Niederlagen vorzuweisen. Um nur einige zu nennen: EM 1998, Niederlage im Halbfinale, 2000 die besagte Niederlage in Sydney, WM 2001, deutliche Niederlage in der Vorrunde, Supercup 2003, Niederlage im Finale. Die Spanier liegen den deutschen Handballern nicht, weshalb sie in der Sprache des Sports unter dem Begriff "Angstgegner" firmieren.

Neben Deutschland ist Spanien das Dorado für Handball-Legionäre, viele der weltbesten Spieler stehen bei spanischen Spitzenklubs unter Vertrag. Diese Ballung von Klassespielern hat den Vorteil, dass die Spanier es wie die Deutschen gewohnt sind, fast jedes Spiel auf hohem internationalem Niveau bestreiten zu müssen. Der FC Barcelona hat während vieler Jahre die Champions League im Handball dominiert, der THW Kiel hat das zweimal leidvoll in verlorenen Endspielen erfahren müssen.

Man könnte in dieser Weise immer weitere Fakten aufzählen, man könnte auf die enorme körperliche Stärke der Spanier verweisen, auf den seit Jahren überragenden Spielmacher Talant Duschebajew, auf den wurfgewaltigen Rückraum, auf die exzellenten Torhüter, und nach einer Weile wäre dann zu fragen, wie die Deutschen es überhaupt vermeiden wollen, von diesen Spaniern vollkommen auseinander genommen zu werden.

Die Antwort hat zwei Teile: Erstens lässt sich nahezu alles, was über Stärken der Spanier zu sagen ist, auch über die Deutschen sagen. Zweitens ist da die Geschichte mit Stefan Kretzschmar. Sie wurde oft erzählt vor diesen Olympischen Spielen, nun ist sie in aller Munde. Kretzschmar hat im verlorenen Viertelfinale von Sydney kurz vor Schluss einen Wurf an die Latte gesetzt, im Gegenzug erzielten die Spanier den Siegtreffer.

Er hat nun schon einige Superlative für die heutige Begegnung gefunden, unter anderem sagt er: "Das ist das Spiel unseres Lebens." Er hat damals die Schuld an der Niederlage auf sich genommen, obwohl das nicht nötig war, die Mannschaft hat ihm den Lattentreffer nie verübelt. Jetzt sagt er: "Ich habe vier Jahre lang dafür gearbeitet, dass ich die Sache von Sydney gerade rücken kann. Es ist die letzte Chance." Ein solche Situation kann sehr motivierend sein. Sie kann auch lähmen.

Parallelen zu Franzi

Frappierenderweise gleicht Kretzschmars Lage jetzt ziemlich exakt der seiner Lebensgefährtin Franziska von Almsick. Auch sie war angetreten, Sydney vergessen zu machen, auch sie hat vier Jahre lang gearbeitet. Die beiden haben diese vier Jahre gemeinsam verbracht, sie haben einander im Tief von Sydney kennen gelernt. Nun ist alles wieder so wie damals: van Almsick hat ihre Ziele über 200 Meter Freistil verfehlt, und die Handballer stehen im Viertelfinale gegen Spanien.

"Schicksal", hat sich Franziska van Almsick auf den Körper tätowieren lassen. Wenn es wirklich so etwas gibt wie Schicksal, dann wird die Sache wohl so aussehen: Letzte Minute, es ist eine dramatische Partie, es steht unentschieden, Deutschland im Ballbesitz. Der Angriff wird vorgetragen, wenn sie jetzt treffen, kommen sie weiter, der Ball wird auf Linksaußen zu Kretzschmar gespielt, Kretzschmar hebt ab, er fliegt in Kreis, er täuscht an. Dann wirft er.

© Süddeutsche Zeitung vom 24.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: