Handball:Acht Jahre nach dem Rücktritt

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Bitter kehrt mit 37 Jahren ins deutsche Handballtor zurück - auch sonst stecken im EM-Kader einige Überraschungen.

Von Carsten ScheeleVon Carsten Scheele, München

"So was plant man einfach nicht", hat Johannes Bitter gesagt, und dies durfte am Freitagmorgen als erste, schnelle und angemessene Analyse seiner Situation durchgehen. Bitter ist Handball-Torwart, 37 Jahre alt, umjubelter Weltmeister von 2007 beim Wintermärchen im eigenen Land; im Gedächtnis der Handballer verankert, weil er den heranstürmenden Polen im WM-Finale 2007 einfach nicht den Ausgleichstreffer gestatten wollte. Er gehört allein deshalb zur reiferen Generation, weil er 2011, also vor acht Jahren, aus der Nationalmannschaft zurückgetreten war. Einmal hat Bitter ausgeholfen, bei den WM-Playoffs 2015 gegen Polen, ansonsten hatte der Stuttgarter mit dem Thema abgeschlossen.

Und ist nun doch zurück: Im mit kleinen und mittelgroßen Überraschungen gespickten Aufgebot für die Handball-EM 2020 in Österreich, Schweden und Norwegen (9. bis 26. Januar) geht Bitter neben dem gesetzten Andreas Wolff als zweiter Torhüter ins Turnier. Das Telefonat mit Bundestrainer Christian Prokop sei kurz gewesen, berichtete Bitter, weil es ihm die Sprache verschlagen habe. Wieder Nationalspieler zu sein, mache ihn "unglaublich stolz", so Bitter bei Facebook: "Für mich gab es kurz vor den Weihnachtstagen schon das erste große Geschenk."

Mit Papier-Krone und Heiner-Brand-Gedächtnis-Bart: Johannes Bitter beim WM-Sieg 2007. (Foto: Achim Scheidemann/dpa)

Weniger weihnachtlich dürfte den beiden anderen Torhütern zumute sein, die ihren Platz im Kader verloren haben. Hatte sich die Nicht-Berücksichtigung von Silvio Heinevetter (Füchse Berlin) nach den letzten Tests schon abgezeichnet, durfte sich der Kieler Dario Quenstedt nach seinen starken Leistungen ernsthafte Hoffnungen machen, erstmals zu einem großen Turnier zu fahren. Doch Prokop entschied sich für Bitter und dessen profunde Erfahrung, denn wer kann schon einen durch alle Handball-Höllenbäder gegangenen Weltmeistertorsteher aus dem Ärmel schütteln? "Wir haben ein Torhüter-Gespann, von dem wir uns hohe Stabilität und wichtige Impulse erhoffen", bewertete Prokop die Nominierung pro Bitter und contra Quenstedt. Dem Kieler dürfte die Zukunft gehören, so der schwache Trost.

Die Personalie Bitter sticht insofern heraus, da sich Prokop sonst eher für das Risiko und den jugendlichen Sturm und Drang entschieden hat. So ist auf Rechtsaußen erstmals seit gefühlten 24 Großturnieren der Mannheimer Patrick Groetzki, 30, nicht dabei; für ihn steht neben Tobias Reichmann der junge Hannoveraner Timo Kastening, 24, im Kader. Auf Linksaußen war die Nominierung von Kapitän Uwe Gensheimer logisch wie gesetzt, er bekommt als Partner den international unerfahrenen Stuttgarter Patrick Zieker (26, null Länderspiele) zugeteilt, nicht etwa den früheren Bundesliga-Schützenkönig Matthias Musche (Füchse Berlin). Abwehrspezialist Finn Lemke, der es unter Prokop stets schwer hatte, fehlt ebenfalls. Im linken Rückraum kehrt in Julius Kühn der zuletzt vermisste Shooter zurück. Am Kreis steht, neben dem gesetzten Trio aus Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler und Jannik Kohlbacher, in Johannes Golla, 22, ein vierter Spieler im EM-Kader; der Flensburger Hüne Golla muss aber bangen, wenn Prokop seinen Kader einen Tag vor dem Auftakt gegen die Niederlande (9. Januar in Trondheim) nochb um einen Spieler reduzieren muss.

Nicht zu verantworten hat Prokop dagegen, dass ein weiterer großer Name des deutschen Handballs fehlt. Sehr gerne hätte er Steffen Weinhold im Kader gewusst, als feste Institution auf Halbrechts sowie als Aushilfsmann auf der Mitte, der Problemposition im deutschen Kader. Doch eine Fußentzündung bereitet dem Kieler Beschwerden, "letztlich hat die Vernunft entschieden", sagte Weinhold. Da auch der Berliner Fabian Wiede in dieser Woche abgesagt hatte, gehen auf Halbrechts Kai Häfner, 30, und Franz Semper, 22, als Duo ins Turnier. "Hoffentlich ist das Ende der Fahnenstange erreicht, was die Verletzungsabsagen angeht", sagte Prokop.

In der Mitte ist die Not noch größer: Hier fällt nach den Verletzungen von Martin Strobel, Tim Suton, Simon Ernst (alle Kreuzbandriss) sowie Wiede (Schulter-OP) und Weinhold nun dem gelernten Halblinken Paul Drux die wichtige Aufgabe zu, das Spiel strategisch anzuleiten. Zweiter Mann ist der junge Mindener Marian Michalczik (22, 13 Länderspiele); alles andere als eine ideale Situation, das weiß auch die DHB-Spitze. "Unser aller Job ist es, gerade aus solchen Rückschlägen neue Stärke zu gewinnen", sagte Sportvorstand Axel Kromer. Auch Prokop sprach Mut zu: "Ich finde, dass wir bewusst und konsequent an unseren Zielen festhalten sollten. Das Halbfinale ist möglich."

Die Kritiker werden fragen: Mit diesem Rückraum? Der dänische Weltmeistertrainer Nicolaj Jacobsen glaubt nicht an eine personelle deutsche Schwäche. Das DHB-Team habe "die beste Abwehr Europas", das mache die Mannschaft automatisch zum Mitfavoriten. Das hatte schon beim vergangenen Turnier recht gut funktioniert. Bei der Heim-WM 2019 landete das deutsche Team - mit felsiger Abwehr und einigen Schwächen ringsherum - immerhin auf Rang vier.

© SZ vom 21.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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