Handball:Abschied ohne Druck

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Die deutsche Auswahl verliert 25:30 gegen Norwegen und verabschiedet sich anschließend nach Japan. Dort will sie schon einmal Land und Leute kennenlernen - schließlich ist Olympia-Gold 2020 in Tokio das große Ziel.

Von Ralf Tögel, München

Die Lichter in der altehrwürdigen Olympiahalle waren längst erloschen, als plötzlich Uwe Gensheimer um die Ecke geschlendert kam. Er trug noch seine Arbeitskleidung nach dem Testspiel gegen Norwegen, hier ein kleines Pläuschchen, dort ein Selfie. Zu guter Letzt erwischte ihn ein junger Mann, der ihn ausgesucht höflich bat, ein paar Worte an das japanische Publikum zu richten. Also sagte der Kapitän der deutschen Handball-Nationalmannschaft in eine kleine Kamera, wie sehr er sich freue, "alle meine japanischen Fans kennenzulernen". Das werde demnächst im japanischen Fernsehen ausgestrahlt, versicherte der Journalist aus Fernost, denn die deutsche Auswahl wird sich in den kommenden zehn Tagen in Tokushima und der Olympiastadt Tokio auf das nächste wichtige Großturnier vorbereiten: die Handball-Weltmeisterschaft im Januar 2019 in Deutschland und Dänemark.

Gut, dass sich das Publikum vor allem aus handballentwöhnten Münchnern zusammensetzte

Das Programm in Japan beinhaltet bekanntlich zwei Vergleiche gegen dessen Nationalteam, kein Gegner allererster Güte, wie der freundliche Reporter erklärte. "Bei uns ist Baseball die Sportart Nummer eins, dann kommt Fußball." Sicher liegen auch Tischtennis und Sumo-Ringen weit vor Handball im Interesse der Japaner, gleichwohl sei der Vorbereitungslehrgang "mit großer Weitsicht" geplant, wie Christian Prokop kürzlich erinnerte. Denn nach der WM im eigenen Land, bei der eine Medaille angepeilt wird, ist das Fernziel Olympia-Gold 2020 in Tokio, nun könne man schon mal "ohne unmittelbaren sportlichen Erfolgsdruck Land und Leute kennenlernen", sagte der Bundestrainer.

Dass sich seine Auswahl keinem unmittelbaren Qualifikationsdruck ausgesetzt sieht, war augenscheinlich das größte Problem beim Vergleich mit den Norwegern, der mit 30:25 Toren recht eindeutig an die Skandinavier ging. Immerhin konnte Prokop viel testen, wovon er ausführlich Gebrauch machte: Allein auf der Mittelposition, der neuralgischen Schaltstelle im Spielaufbau, bekamen in dem Berliner Fabian Wiede, Tim Suton (Lemgo), dem Leipziger Niclas Pieczkowski und Tim Kneule aus Göppingen gleich vier Spieler Bewährungsmöglichkeiten. Dem Spielfluss war dies weniger dienlich, Prokop gestand Suton "kleine Impulse" zu, es sei indes nicht der Zeitpunkt für weiterführende Einzelkritiken.

Kreisläufer Hendrik Pekeler brachte es nach der Partie erfrischend ehrlich auf den Punkt: "Norwegen befindet sich in einer entscheidenden Phase, sie spielen Qualifikation, für uns war es so eine Art Abschied." Pekeler meinte damit die Reise nach Japan, erinnerte zudem an eine lange und kraftraubende Saison, die erst vor ein paar Tagen ein Ende gefunden habe. Gastgeber Deutschland ist gesetzt, der WM-Zweite Norwegen muss sich dagegen Anfang Juni in zwei Playoff-Spielen gegen die Schweiz das Ticket für die WM im Januar erst noch verdienen, die zeitnahe Annäherung an die Bestform ist daher erstes Ansinnen von Trainer Christian Berge. Er war auch schon "sehr zufrieden mit dem Angriff", der die Deutschen nach einem 15:15-Remis zur Pause in der zweiten Abwehr vor unlösbare Probleme stellte. Angeführt von Sander Sagosen, der mit acht Treffern ebenso erfolgreich war wie sein Pariser Vereinskollege Gensheimer, enteilten die Gäste zu Beginn der zweiten Hälfte. Nachlassende Kräfte, fehlende Feinabstimmung und der im zweiten Durchgang hervorragend haltende Torbjoern Bergerud im norwegischen Tor - das war der Mix, aus dem sich die verdiente Niederlage der Deutschen speiste. Gut nur, dass sich die 9700 Zuschauer vor allem aus handballentwöhnten Münchnern zusammensetzten, trotz fehlerhaftem Spiel und Misserfolg wurde die DHB-Auswahl bis zur Schlusssekunde angefeuert. "Das ist die Wahrheit", sagte Prokop, die da von der Ergebnistafel leuchte, folglich gelte es in Fernost nicht nur am Teambuilding zu arbeiten, auch taktische Aufgaben seien zu erledigen.

Es gibt auch ein paar positive Erkenntnisse nach Japan mitzunehmen: In Julius Kühn hat Prokop einen Rückraumwerfer erster Güte im Kader, der Mittelblock mit Pekeler und Patrick Wiencek funktioniert zuverlässig, steht ihm noch Steffen Weinhold zur Seite, bekommt auch ein Klasseteam wie Norwegen Probleme. Auf die Flügelachse Gensheimer und Patrick Groetzki ist Verlass, Fabian Böhm vom TSV Hannover-Burgdorf hatte ein paar starke Szenen. Ansonsten muss man konstatieren, dass etwa in Abwehrchef Finn Lemke, den Rückraumspielern Paul Drux und Steffen Fäth oder Rechtsaußen Tobias Reichmann eine Reihe etablierter Spieler verletzt oder verhindert fehlten. Was den Schluss zulässt, dass einige der aktuellen Nachrücker bei der WM wohl nicht mehr zu sehen sein werden. Es sei ja noch eine lange Zeit bis Januar, sinnierte Gensheimer, jeder erhalte seine Chance, aber klar, es hätten wichtige Akteure gefehlt.

Torhüter Andreas Wolff, meinungsstarker Leader im Team, teilte der dpa noch mit, dass die DHB-Auswahl nach der Ära Sigurdsson nie mehr "so ganz ihre Form gefunden" hätte. Ob er sich auf das Wiedersehen mit Dagur Sigurdsson freue, war er gefragt worden, der bekanntlich Japan auf die Olympischen Spiele im eigenen Land trimmt. Ihm wäre lieber, so sagte Wolff, "dass wir auf der Erfolgswelle, auf der wir schwammen, als er uns verlassen hat, hätten weiter schwimmen können". Wolff rief so natürlich die verkorkste EM in Kroatien in Erinnerung - inklusive der atmosphärischen Störungen zwischen Team und Trainer. Ein Thema, das den DHB weiterhin begleiten wird - auch nach Japan.

© SZ vom 08.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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