Halbzeit bei den French Open:Roland Garros, c'est moi!

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Größte Überraschung der ersten Turnierwoche: die Tunesierin Ons Jabeur erreichte als erste Araberin die dritte Runde in Paris. (Foto: Gonzalo Fuentes/Reuters)

Lange zelebrierten in Paris die Veranstalter ihre French Open, vernachlässigten aber die Anlage. Bis das Dach endlich kommt, ist nur das emotionale Publikum erstklassig.

Von Gerald Kleffmann, Paris

Der hoffnungsvollste Moment, wenn alle Erwartungen frisch vor einem liegen, ist immer jener, wenn es losgeht, wenn es jeden Morgen heißt: Öffnet die Pforten! Dann beginnen sie ja wieder, die vielen Geschichten, die an diesem Ort gerne so speziell sind. Vor einer Woche ertönte der Ruf erstmals über die Lautsprecher im 16. Arrondissement, es war ein herrlicher Sonnentag, wie alle Tage gerade formidabel sind in Paris, anders als 2016. Grand Chelem sagen die Franzosen zu ihrem Grand-Slam-Turnier, wobei das rauchige "Grrrooond" schon ein erster, subtiler Hinweis darauf ist, dass die nächste Emotion, das nächste Drama gleich hinter der nächsten Ecke lauern könnte, im Court Philippe Chatrier, im Court Suzanne Lenglen, im Salle de Presse, wo die Tennisprofis ihre Gedanken in Worte fassen müssen.

Jedes der vier Grand-Slam-Events hat sein Ego, seinen Duft. Melbourne gilt als Happy Slam, Wimbledon als betulicher Primus, New York als Krake. Paris? Dazu dies: Es gab mal einen Mann, der hieß Roland Adrien Georges Garros. Er wurde auf La Réunion geboren, Pianist wollte der Franzose werden. Aus Liebe zur Fliegerei brach er das Studium ab. Er wurde Kampfpilot, der seine Leidenschaft dafür aufbrachte, herauszufinden, wie man andere besser vom Himmel schießt. Während des Ersten Weltkrieges hatte er Gelegenheit, seine Tüfteleien in Taten umzusetzen, er geriet in deutsche Gefangenschaft, konnte fliehen und wurde 1918, einen Tag vor seinem 30. Geburtstag, von einem deutschen Kampfflieger umgebracht. Er wurde ein nationaler Held - nach diesem Mann haben die Franzosen ihre French Open benannt. Roland Garros nennen sie das Turnier. Sie sehen ihre Perle auf einer höheren Ebene.

Ein Glück, dass über die scharfe Kante neben dem Court 2 noch kein Spieler gestürzt ist

Das dürfen sie auch. Roland Garros wirkt zweifelsfrei so, als würden überall rote Vorhänge hängen, die dann beiseite geschoben werden - und die Vorführungen beginnen. Allein der Anmarsch zur Anlage gleicht einer Inszenierung. Am ersten Kontrollpunkt wird geprüft, ob man Zuschauer oder Arbeitskraft von der Anlage ist. Beim zweiten Kontrollpunkt schaut einer in die Tasche, flüchtig, gelangweilt fast. Beim dritten muss man die Arme hochklappen, der Körper wird mit einem Gerät gescannt. Beim vierten alles in einem: Blick in die Tasche, ein Abtasten des Körpers. Dann ist man bei den French Open.

Nun ist es heutzutage absolut richtig, Sicherheit als höchste Priorität einzustufen, darüber sollten keine Witze gemacht werden. Aber die Tendenz, vom Laissez-faire-Moment zur spät entfachten Hyperaktivität umzuschwenken, ist schon spürbar. Jeder im Tennisbusiness weiß, dass die French Open, was die infrastrukturelle Entwicklung betrifft, das rückständigste der vier Grand Slams ist. Moderne muss nicht immer die Verheißung schlechthin sein, aber Roland Garros hat es mit seiner Selbstgefälligkeit über die Jahre sicherlich übertrieben. Das Symbol des Stillstands schlechthin: Noch immer ist man das einzige Grand Slam ohne Dach über einem Stadion. Die Flanierwege, von denen es nicht viele gibt, sind - wenn der tägliche Ansturm kommt - eng wie in einer sizilianischen Altstadt. Der vor wenigen Monaten nicht mehr angetretene französische Verbands-Präsident Jean Gachassin hatte Roland Garros wie sein Versailles geführt, das in Perfektion würdevoll vor sich hin verstauben durfte. Nur: So perfekt, das versuchten sogar Spieler den Machern einzuhämmern, war es längst nicht mehr. Das perfekte Symbol ist eine kleine, scharfkantige Mauer auf Höhe der Grundlinie von Court 2. Im Grunde mysteriös, dass dort noch keiner verunglückt ist beim Return.

Irgendwann hörten sie indes den Schlag, es wurde beschlossen, in die Neuzeit aufzubrechen, aber wenn der Franzose aufbricht, heißt das erst mal: Es wird gestritten. Turnier, Stadt, Naturschützer, Anwohner, in dieser Phase hätte sich Roland Garros "House of Cards" nennen können. Immerhin hat Gachassin niemanden kalt gemacht, wie Kevin Spacey in der famosen US-TV-Serie. Aber krumme Geschäfte waren nach Lage der Dinge schon dabei. Er soll sich ein bisschen bereichert haben.

Die Besucher lassen die Akteure gerne spüren, ob ihnen die Vorstellung mundet

Wie auch immer, irgendwann geschah das Wunder, es ging voran. Jetzt herrscht - unter dem neuen Präsidenten Bernard Giudicelli - Aufbruchsstimmung, auch wenn der mit ersten Zügen alleinherrschaftlicher Art auffällig wurde. Dieses Amt verführt offenbar die obersten Bosse, zu denken: Roland Garros, c'est moi! Das Turnier darf jedenfalls höchst richterlich umbauen, die Anlage erweitern, zwei Stadien hochziehen. Bei den Eingängen hängen Plakate mit den Plänen, was alles Tolles entstehen soll, es gab eine staatstragende Pressekonferenz dazu, Pressematerial in Hülle und Fülle, manche Besucher lassen sich gar die Plakate von feschen Lacoste-Typen erklären, die fürs Turnier arbeiten. Nach Jahren, in denen sich rein nichts bewegte, verkaufen sie ihr Projekt, als entstehe Eiffelturm Nummer zwei. Dabei bauen sie in erster Linie vor allem erst mal das dringend benötigte Stadiondach, von dem sie in Melbourne schon drei haben, jederzeit ausfahrbar, wenn es regnet. Als das deutsche Supertalent Alexander Zverev in seinem ersten und auch letzten Match gegen den Spanier Fernando Verdasco in der Dunkelheit des heranrückenden Abends mit dem Schiedsrichter diskutierte, ob es noch hell genug zum Spielen sei, weil ja auch Flutlichtmasten fehlen, erinnerte diese Szenerie an Klubmeisterschaften auf dem Lande. Die übrigens, das nur am Rande, ja auch ihre Reize haben. Aber sie sind eben kein millionenschweres Grand Chelem. Die vier Mega-Veranstaltungen des Tennis zählen jedes Jahr zu den zehn größten Sportevents der Welt.

Das Publikum hatte in jenem Moment der Partie bei Zverev natürlich gepfiffen, als das Spiel abgebrochen wurde. Das ist auch so ein Spezifikum. Die Zuschauer, nicht die ärmsten, sind nicht so wie in Melbourne, wo sich die Omis mit Tupperware-Schälchen zum hintersten Platz gesellen, um sich ein Match zwischen zwei Qualifikanten anzusehen. In Paris picken sie sich lieber manche Rosine raus und lassen die Darsteller spüren, ob ihnen die Vorstellung mundet. Die Beliebtheitsskala ist klar strukturiert und unumstößlich: Über allen steht Roger Federer, der sogar angefeuert wird, wenn er gegen einen Franzosen spielt. Dann folgen die französischen Spieler. Als Kristina Mladenovic am Freitag schon wieder ein Match im dritten Satz furios gewann, diesmal gegen Shelby Rogers aus den USA, brüllten Tausende Kehlen: "Kikiii! Kikiii!" Schließlich werden jene unterstützt, die sich mit Passion auf der Terre Battue, dem Aschebelag, ins Zeug legen.

Als der Argentinier Juan Martín Del Potro seinen spanischen Gegner Nicolas Almagro, der am Knie verletzt schluchzend aufgeben musste, minutenlang in den Arm nahm, zur Bank führte, ihn weiter umarmte und mit den Worten tröstete, er solle an die Familie denken, ans Baby, führte das sogleich zu höheren Eingebungen. Der Sänger und Schriftsteller Mathias Malzieu forderte in seiner Kolumne der Sportzeitung L'Equipe, die Welt sollte genau diese "Tennispoesie" adaptieren - diesen Gedanken führte er dann wie ein Philosoph überzeugend aus. Le Matin druckte den oft an sich zweifelnden Stan Wawrinka, Sieger 2015, in der Pose einer berühmten Skulptur ab - als "Der Denker" von Auguste Rodin. Aber auch den kleinen Siegen, mit Leidenschaft errungen, wird gehuldigt. Die Tunesierin Ons Jabeur erreichte als erste Araberin die dritte Runde eines Grand Slams. Als sie ihren Stolz Fahne schwenkend vorführte und jeder sah, was der Erfolg ihr bedeutet, ergriff auch dieses Schicksal Menschen und Medien.

Ja, es geht hier um Vorhände, Rückhände, Asse. Aber auch viel ums Herz. Der Brasilianer Gustavo Kuerten ist heute noch ein Heiliger, er war der Erste, der dieses Zeichen in den Sand mit dem Schlägerrahmen pinselte und sich hineinlegte. Novak Djokovic fing in Paris an, nach Siegen beide Hände zu seinem Herzen zu führen und es dann virtuell ins Publikum zu werfen. Der Serbe hat mit Andre Agassi diesmal einen neuen Trainer dabei, der einen eigenen Status bei den French Open besitzt, nicht nur wegen seines Sieges 1999, den er so lange verzweifelt gesucht hatte wie Djokovic (der 2016 gewann). Paris hatte Agassi sportlich erlöst - und zwischenmenschlich. Für den Amerikaner und Steffi Graf begann hier ihre Liebes- und Familiengeschichte, und weil Romantik ein Pflichtfach in Frankreich ist, ist Agassis Rückkehr auch für Paris speziell. L'Equipe widmet ihm jeden Tag zwei Seiten.

© SZ vom 03.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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