Halbfinale der Handball-WM:Der entfesselte Fritz

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Choreographie der völligen Balance: Erst die letzte Parade des Tormanns entscheidet das Halbfinale zugunsten der Deutschen.

Christian Zaschke

Das Spiel längst war weiter, als Spiele emotional sein können, es hatte die zweite Verlängerung erreicht, die 19000 Menschen in der Kölnarena brüllten, weil sie diese Spannung nicht mehr aushalten konnten.

Hoch über den Dingen: Torhüter Henning Fritz lässt sich zu Recht feiern. Dank seiner Weltklasseleistung sind die Deutschen im Finale. (Foto: Foto: Reuters>)

Ein letztes Mal wurde die Uhr angehalten, sie stand auf 79:57 Minuten, noch drei Sekunden zu spielen, und die Deutschen führten im Halbfinale der Weltmeisterschaft 32:31 gegen Frankreich. Die Franzosen hielten den Ball, einen Wurf hatten sie noch, um ein Unentschieden und damit das Siebenmeterwerfen zu erreichen.

Anpfiff, die Menschen schrien, Daniel Narcisse stieg hoch in die Luft, er warf, und dann zauberte Torwart Henning Fritz einen Reflex aus seinem Körper, mit dem er den Ball abwehrte, und damit war es vorbei.

Fritz griff sich den Ball, er hielt ihn hoch wie eine Trophäe und rannte von Sinnen über den Platz, weil er wusste: Die deutschen Handballer haben das Finale der WM erreicht.

Brand, der Tänzer

Bundestrainer Heiner Brand, dessen Gang man die Schmerzen an Rücken und Hüfte sonst ansieht, sprang auf das Feld und begann eine sehr eigene Version des Sirtakis zu tanzen, wenig fehlte, und er hätte die Beine in die Luft geworden wie eine Tänzerin im Moulin Rouge. Der Rest der Mannschaft jagte den entfesselten Fritz, der noch immer über den Platz rannte, den Ball fest in der Hand, als hielte er das Glück.

Es war der Ball, den der französische Torwart Thierry Omeyer am Ende der ersten Verlängerung geküsst hatte, auf dass er immer wieder zurück in seine Arme kommen würde; doch der Ball hatte sich in Henning Fritz verliebt, und er blieb ihm treu.

Dafür, dass er das Spiel mit seiner letzten Parade entscheiden konnte, hatte Henning Fritz mit seiner vorletzten Parade gesorgt. Als noch 14 Sekunden zu spielen waren, war der gefürchtete Werfer Narcisse schon einmal in die Luft gestiegen, er hatte geworfen und Fritz hatte fantastisch gehalten, es war die Kopie der Szene des Endes. Und wenige Sekunden davor war passiert, was Frankreichs Trainer Claude Onesta so sehr verärgerte, dass er nicht zur offiziellen Pressekonferenz erschien.

Der Ärger der Franzosen

29 Sekunden vor Schluss waren die Deutschen in Unterzahl und in Ballbesitz. Die Franzosen verteidigten offensiv, sie spielten die so genannte Indianerdeckung: Mann gegen Mann über das ganze Feld.

Der deutsche Rechtsaußen Florian Kehrmann dribbelte ein wenig, er passte nicht ganz genau zu Linksaußen Torsten Jansen, der den Ball nicht unter Kontrolle bekam. Michael Guigou ging dazwischen und griff die Kugel, er dribbelte los und wurde sofort von den Deutschen gefoult.

Dennoch rannte er weiter, er warf den Ball zum vermeintlichen Ausgleich ins Tor, er jubelte und musste dann sehen, dass die Schiedsrichter den Treffer nicht gaben. Sie hatten das Foul gewertet und den Vorteil abgepfiffen. Das war insofern erstaunlich, als sie vorher in der Partie recht konsequent bei Vorteil hatten weiterlaufen lassen, es war die einzige Szene, in der sie ihre klare und zuvor für beide Mannschaften absolut ausgeglichene Linie verlassen hatten.

Was die Schiedsrichter taten, ging nicht gegen die Regel, doch in dieser Szene hatten die Deutschen wohl davon profitiert, dass sie diese Weltmeisterschaft zu Hause spielen.

Baur und die winzige Lücke

Der Franzose Joel Abati sollte hinterher sagen, sie seien an den Schiedsrichtern gescheitert Dass sie überhaupt in die Lage kamen, so dramatisch um alles zu spielen, danach hatte es kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit nicht mehr ausgesehen.

Da hatte die Partie wie eine feine Choreographie der völligen Balance gewirkt, es trafen die Deutschen, es trafen die Franzosen, und so ging es minutenlang, bis 78 Sekunden vor Schluss Pascal Hens am französischen Torwart scheiterte. Es trafen die Franzosen, und es trafen die Franzosen, sie führten nun, sie waren durch.

18 Sekunden vor Schluss griff sich Kapitän Markus Baur, dick an der Wade bandagiert, den Ball, er wusste, dass die Verletzung ihn behinderte, er wusste, dass er mit 36 Jahren nicht mehr der Schnellste ist - doch nun lief auf die winzige Lücke zu, die er in der französischen Abwehr erspäht hatte, er schob sich hindurch und warf den Ball zum Ausgleich ins Tor.

So vieles klappte in den entscheidenden Situationen, dass es der Sieg vielleicht seine Ursache hat im kleinen Aberglauben, dem sich die Deutschen hingegeben hatten. Für dieses Halbfinale hatten sie sich alle glatt rasiert wie zur Vorstellung bei den Schwiegereltern, und derart schön gemacht gewannen sie tatsächlich ein Spiel, das hochdramatisch, aber niemals schön war.

Die mangelnde Schönheit war darauf zurückzuführen, dass die Franzosen in der Abwehr eine Mauer errichtet hatten, die gebaut aus Stahlbeton kaum effektiver hätte sein können. Zudem gingen sie mit großer Härte zu Werke, das ist eines ihrer Markenzeichen. Was das angeht, standen ihnen die Deutschen allerdings wenig nach; die Abwehr um Oliver Roggisch weiß ebenfalls, wie das Spiel geht - und wie man das Spiel verhindert.

Hin und Her zwischen Deutschland und Karabatic

Partien mit zwei derart starken Abwehrreihen werden meist über Einzelaktionen entschieden. Das wiederum bedeutet, es gewinnt, wer über einen Torwart in Hochform und dazu einen beständig treffenden Schützen verfügt. Eine ganze Weile sah es so aus, als hätten beide Teams zwar einen guten Torwart, aber nicht den treffenden Mann. Doch dann kam bei den Franzosen Nikola Karabatic allmählich ins Rollen, der insgesamt sechs Treffer erzielte.

Es entwickelte sich in dieser Phase ein Hin und Her zwischen Deutschland und Karabatic, bis vor der Halbzeit auch Narcisse und Luc Abalo trafen. 12:10 führten die Franzosen zwei Sekunden vor der Halbzeitsirene, dann warf Florian Kehrmann den Ball so schnell wie überraschend ins Tor und gab damit ein Zeichen: Wir sind noch da, sagte diese Wurf den Franzosen, und die Zuschauer schrien trotz des Rückstands vor Freude

In der zweiten Halbzeit erreichte die Partie dann allmählich den Status völliger Ausgeglichenheit; sie ging in die Verlängerung, sie ging in die zweite Verlängerung, und sie endete schließlich mit einem Wurf, einer Parade, mit Daniel Narcisse, der am entfesselten Fritz scheiterte.

© SZ vom 2.2.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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