Golf:Seelenforscher

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Der Ball rollt, wie gewünscht: Martin Kaymer, zweimaliger Major-Sieger aus Mettmann, erlebt einen erfolgreichen ersten Arbeitstag bei der Rückkehr zum Golfturnier in Eichenried bei München. (Foto: Stuart Franklin/Getty Images)

Martin Kaymer will sich künftig weniger an Ergebnissen orientieren. Beim Turnier in Eichenried gelingt ihm mit dieser Einstellung schon mal eine fabelhafte Auftaktrunde.

Von Barbara Klimke, München

Es ist ein standesgemäßer letzter Putt gewesen: Der Ball rollte aus kürzester Distanz ins Loch, Martin Kaymer blieb auch auf der Schlussbahn noch einmal unter der Schlagvorgabe und wurde unter großem Beifall des Publikums ins Klubhaus verabschiedet. Viele der Zuschauer waren mit Kaymer, dem einst weltbesten Golfspieler, der früheren Nummer 1, schon am Morgen über die erste Runde der Anlage in Eichenried gepilgert. Aber möglicherweise sind alle einer kollektiven Sinnestäuschung unterlegen: Denn dieser Ausnahmegolfer existiert angeblich nicht mehr.

"Ich bin nicht mehr der Martin Kaymer von 2010 oder 2011", hat Kaymer klargestellt. Keiner sollte sich irreführen lassen, nur weil er aussieht wie immer, 1,84 Meter groß und fit, und mit derselben Stimme spricht. Zur Wahrheit im Leben, das hat er vor Kurzem in einem Blog auf der Homepage der European Tour geschrieben, gehöre es, seine Lage realistisch einzuschätzen und zu akzeptieren. Im vergangenen halben Jahr, darauf wies Kaymer ausdrücklich hin, hat er sich in der Weltrangliste um Platz 100 herum bewegt. Aus dieser Position ergebe sich für ihn die logische Folgerung, dass er jetzt "den Gegner schlägt, der die Nummer 99 ist". Sich an der Nummer 1 zu messen, an Leuten wie Brooks Koepka aus den USA, hält er schlich für "Fantasie".

Womöglich ist Kaymer, ein kluger Analytiker, dabei etwas zu hart zu sich gewesen. Denn am Donnerstag, zum Auftakt der BMW International Open, war das Können zu bestaunen, das ihn zu jenem Spieler machte, der zwei der größten Trophäen seines Sport gewonnen hat, die PGA Championship (2010) und die US Open (2014). Auf dem Par-72-Kurs in Eichenried bei München spielte er eine fabelhafte Runde von 67 Schlägen und lag, nachdem der erste Durchgang wegen Dunkelheits abgebrochen worden war, auf dem geteilten zweiten Rang hinter Andrea Pavan (Italien)

. Tatsächlich ist Kaymer vor kurzer Zeit schon wieder ein beachtlicher Auftritt geglückt: Anfang Juni schloss er das Memorial Tournament in Ohio als Dritter ab; auch bei der US Open vor einer Woche, wo er auf Platz 35 landete, hatte er, wie er fand, zwei Runden lang den Ball auf den Grüns sehr ordentlich ins Loch bugsiert. Er habe an vielen Dingen gearbeitet, erklärte er, als er nach München kam: "Und wenn dann ein gutes Ergebnis rauskommt, ist das schön."

Zur Vita von Deutschlands bestem Golfer gehört allerdings auch, dass die schönen Ergebnisse zuletzt seltener geworden sind. Seine Trophäensammlung hat er seit dem US-Open-Sieg vor fünf Jahren kaum erweitern können. Weshalb er nun im Alter von 34 Jahren beschlossen hat, dass Platzierungen allein nicht mehr sein Wohlbefinden diktieren sollen: "Ich habe mich ein bisschen davon freigemacht, resultatorientiert zu denken."

Martin Kaymer schwört dem Erfolg nicht ab. Er definiert ihn jetzt nur anders

Bei einem Profiathleten seines Kalibers, der seinen Unterhalt durch sportlichen Wettstreit verdient, klingt das zunächst erstaunlich. Aber Kaymer schwört dem Erfolg nicht ab. Er definiert ihn nur anders. Zunächst sei für ihn wichtig, dass er "ordentliches Golf spielt, Spaß an den Schlägen hat, die Zeit auf dem Platz genießt", sagte er. Zu oft hat er gesehen, wie schwer es wird, seine Fähigkeiten zu entfalten, "wenn man an Ergebnisse gefesselt ist".

Nach München, wo er 2008 gewann, kommt er ohnehin gern zurück. Und so wirkte er recht entspannt, als er seine neue Herangehensweise an ein Spiel erläuterte, in dem man die Flugkurve des Balls nicht erzwingen kann. Er hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, warum er eine Zeitlang so außerordentlich erfolgreich war, und ist bei seiner Seelenforschung zu Einsichten gekommen, die seinen Alltag nun auch bestimmen, wenn er nicht den Schläger schwingt. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Profigolfer generell "ein privilegiertes Leben" führen. "Mein Job hat zu 95 Prozent Vorteile", sagt Kaymer, da sei es hinderlich, sich auf die fünf Prozent Nachteile zu konzentrieren. Als sich beispielsweise in der vorigen Woche die Kollegen bei den US Open in Kalifornien über die ungewohnte Kälte beklagten, schüttelte er nur den Kopf: "Andere gehen ins Büro. Wir dagegen spielen eine Runde Golf bei Top-Bedingungen, das ist unser Arbeitsplatz." Allein schon darauf hinweisen zu müssen, sei ihm unangenehm.

Und weil er einen Job macht, den er liebt, hat er beschlossen, sich nicht mehr ablenken zu lassen vom Wesentlichen. Dazu gehört, dass er die Beschäftigung mit Social Media aufs Nötigste reduziert. Er liest nicht mehr jeden Kommentar, er will nicht mehr ständig alles miteinander vergleichen, "und ich muss nicht mit Nachrichten aufwachen und mit Nachrichten ins Bett". Seit bei Turnieren die entsprechenden Kanäle ausgeschaltet bleiben, hat er festgestellt, dass er mehr Energie hat und sogar besser schläft. Im Trend liegt solche Vermeidungsstrategie natürlich nicht, wie er kürzlich in Phoenix/Arizona feststellte, als er allein in einem Café saß. "Da kam ein Pärchen auf mich zu und hat gefragt, ob alles okay ist - weil ich nichts gemacht habe, außer meinen Kaffee zu trinken." Es hat ihm zu denken gegeben, dass die Fähigkeit, den Moment zu genießen, heutzutage offenbar als anormal betrachtet wird.

"Ich habe einen Weg gefunden, der für mich momentan funktioniert", sagt Martin Kaymer. Der Weg schließt aber nicht aus, dass er konkrete Ziele verfolgt. Er braucht gute Runden in den kommenden Wochen, um sich für die British Open zu qualifizieren; die automatische Spielberechtigung, die er nach dem letzten Major-Sieg genoss, ist nach fünf Jahren abgelaufen. Und bis Jahresende will Kaymer, derzeit Nummer 93 der Welt, wieder unter den besten 50 sein, was die Turnierteilnahme erleichtert. "Ich bin zufrieden mit dem Prozess, den ich durchlebe", sagt er. Alles andere brauche Zeit. Und damit geht's am Freitag in Eichenried in die zweite Runde.

© SZ vom 21.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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