Glosse "Tokio Hotel":Achterbahn im Mondenschein

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(Foto: Luis Murschetz)

Olympia-Arbeitende verbringen reichlich Zeit im Bus. Zum Glück. So kommen sie mal raus aus ihrer Corona-Blase und sehen am Fensterplatz die Weltstadt Tokio vorüberziehen. Und dann sorgt der nächtliche Transit auch noch für ein interessantes Ziehen im Magen.

Von Volker Kreisl, Tokio

Busfahren ist die Schattenseite von Olympia. Es beginnt mit Warten, denn ein richtiger, stolzer Shuttlebus erscheint erst, wenn man für ihn eine halbe Stunde an der Haltestelle gestanden hat. Aus Prinzip, so ist das. Und sitzt der Wartende dann drin, hat ihn sogleich Panik am Wickel, weil er den letzten Anschluss auf dem Weg ins Hotel braucht, aber sein Busfahrer derart schleicht, dass er die nächste Rotphase garantiert erwischt. Zack, die Ampel springt um, der macht das absichtlich.

Olympia-Arbeitende verbringen reichlich Zeit im Bus, in Tokio sind es bis zu vier Stunden am Tag. Jedoch, etwas ist hier anders. Denn man will am liebsten nicht mehr aussteigen.

Der Platz am Fenster ist immer der bessere, für die olympischen Gäste in der Corona-Blase ein Muss, bietet er doch die Gelegenheit, die Stadt anzuschauen. Morgens, wenn die Augen noch offen sind und der Geist neugierig, kreuzt der Insasse im Bus durchs Hafenviertel, wo immer etwas zu entdecken ist. Etwa die Baggerschiffe oder die ehemalige Bootswerkstatt, in der nun Kinder Hallenfußball spielen. Oder auch praktische Erfindungen für eine enge City, wie den Autoschrank im Hof. Das ist ein hohes Gerüst mit drei bis vier riesigen Fächern, je horizontal und vertikal. Einmal konnte man zuschauen, wie ein Schrankfachbesitzer sein Auto per Fernbedienung verstaute.

Irgendwie sind die Busse in Tokio auch bequemer als anderswo. Sie röhren dunkel mit ihrem Dieselmotor, sind mit einer exzellenten Dämpfung ausgestattet und ihre Polster ermöglichen etwa auf der einstündigen Fahrt nach Makuhari zum Ringen eine erfrischende Siesta. Aber das ist alles noch gar nichts, gemessen an der Fahrt nachts, nach Hause. Die ist der Höhepunkt des Tages, kein dramatischer olympischer Wettkampf kommt da mit, denn da geht es auf die Achterbahn.

Tokio ist eine riesige Stadt, die ihre Autobahnen auf Pfeilern hoch oben über dem Boden gebaut hat. Die Trassen sind schmal, oft einspurig, die Kurven sind eng. Im Pkw ist das wohl langweilig, aber im Bus, da sitzt man oben, wo es wackelt und der Blick weit über die Sichtblenden der Brücken hinausgeht. Längst liegt die Nacht über der Stadt, und die Lichter der Wolkenkratzer grüßen von überall. Der Bus fliegt jetzt um die Kurve, und genau in diesem Moment schiebt sich der Mond über dem Meer aus den Wolken. Wir fliegen weiter, zum Höhepunkt des Tages, der steilen Ausfahrt. Dort stürzen wir mit dem Bus hinab und werden unten, nachdem es im Magen gezogen hat, sanft aufgefangen.

Man denkt sofort: nochmal. Morgen wieder. Und die Fahrt wird wichtiger als das Ziel. Für einen Shuttlebus ist das die größte Ehre.

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