Glosse:Leben hinter Glas

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(Foto: Luis Murschetz)

Am Rand der Körperoptimierungsmesse Olympia findet ein Demonstrationswettbewerb in einer eher sportfremden Disziplin statt: dem Rauchen. Die Teilnehmer daran beweisen dabei höchste Geduld und Durchhaltevermögen.

Von Volker Kreisl, Tokio

Großmutter hatte eigene Ansichten von einem guten Restaurant. Schmecken musste es, sauber sollten der Tisch und die Finger der Bedienung sein, und man sollte später sagen können: "Da kann man schön sitzen."

Dabei findet man solche Plätze ganz leicht. Einfach nur sitzen und schauen kann man zum Beispiel im Restaurant des Medienzentrums in Tokio, hinter dessen Glasfassade gerade Leute anstehen. Immer mehr werden es, und alle halten ein weißes Stäbchen in der Hand, aber eine Corona-Selbstteststation kann es nicht sein, denn beim Eintreten vorne, da zünden sie das Stäbchen an.

Diese Menschen warten, um zu rauchen. Nicht zwei Minuten, sondern eine Viertelstunde und mehr. Ziel ist ein kleines, von Hecken umzäuntes Areal. Langsam nur rücken sie voran, die Olympiaverwaltung ist offenbar streng. Viel Platz zum Rauchen soll nicht sein, Olympia ist schließlich die Messe der gesunden und leistungsfähigen Körper.

Gestählt scheinen die meisten in dieser Schlange nicht zu sein, und auch nicht sein zu wollen. Es ist eine bunte Gruppe, drei Wachleute in Uniform stehen da etwa, ein müder Volunteer mit gelber Weste, zwei Untersetzte in Anzug und Krawatte, ein Arbeiter im Blaumann und Journalisten. Sie halten ihre Zigarette in der Hand und das Feuerzeug in der anderen, sie kennen sich nicht, sie verlieren beim Warten eine Viertelstunde, aber das macht nichts. Denn es scheint so, als hätte man sich solidarisiert. Hier in der Schlange vor dem Gärtchen zu stehen, das ist auch eine Demonstration.

Gesprochen wird nicht, jeder kommt aus einer anderen Ecke der Welt. Die Journalistin mit der dicken Handtasche raucht, während sie telefoniert. Die Wachleute können nicht plaudern, weil der eine schon fast fertig ist, wenn der Kollege hineindarf. Und der junge Volunteer steht in der Ecke und zieht seine Kippe mit großen Augen in drei, vier Zügen weg.

Den Gärtchenrauchern könnte man stundenlang zuschauen, vielleicht deshalb, weil sie einen Kontrast darstellen zu Olympia. Ihr eingestandenes Laster wirkt wie eine Provokation, ein hübscher Gegensatz zur gefeierten Körperoptimierung, zur großen, bunten Turnschuh-Fitness, die Olympia ja ausstrahlt. So kann man mal wieder ein Stück echtes Leben betrachten, hinter der Glasscheibe.

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