Glosse:Krake Paul wird digital

Lesezeit: 2 min

(Foto: SZ)

Weltweit überbieten sich die Spielvorherseher mit immer gewagteren Prognoseinstrumenten. Eine lange unterschätzte Größe dabei: der Gesamtversicherungswert der Mexikaner.

Von Claudio Catuogno

An diesem Montag um 15.45 Uhr landete dann doch noch eine gute Nachricht im Mailpostfach, mit freundlichen Grüßen von der Wissenschaft. Betreff: "Titelverteidiger Deutschland wird es ins Finale der Fifa Fußball-Weltmeisterschaft schaffen, so die Prognose des Londoner Versicherungsmarktes Lloyd's."

Diese Mitteilung war deshalb beruhigend, weil die 0:1-Niederlage des Titelverteidigers Deutschland gegen Mexiko daran am Tag zuvor gewisse Zweifel geweckt hatte. Aber nun die Entwarnung: "Lloyd's, der weltweite Spezialversicherungs- und Rückversicherungsmarkt, hat heute in Zusammenarbeit mit dem Centre for Economics and Business Research (Cebr) eine Studie veröffentlicht, in der jede an der Fifa-Weltmeisterschaft 2018 teilnehmende Mannschaft auf der Grundlage des kollektiven Versicherungswertes der Spieler eines Landes klassifiziert wird. Neben einer Reihe von zusätzlichen Indikatoren verwendet Cebr die Gehälter plus die Sponsoren- und Werbeeinnahmen der Spieler zur Erstellung eines Wirtschaftsmodells mit Schätzwerten zu den Einkommen der Spieler bis zu ihrem Ruhestand. Diese Hochrechnungen bilden die Grundlage für die Bemessung der Versicherungswerte nach Alter des Spielers, Spielposition und Nationalität."

Der Gesamtversicherungswert des mexikanischen Teams war lange eine unterschätzte Größe

Das mag für manchen Fußballfan jetzt einen Tick zu komplex formuliert sein, daher der wissenschaftliche Kern noch mal in der Zusammenfassung: "Mithilfe dieser Analyse", so die Mitteilung weiter, könne "Lloyd's vorhersagen, wer sich aus seiner jeweiligen Gruppe qualifizieren" wird.

Prognosen auf der Basis von Schätzwerten gehören bekanntlich zum Kerngeschäft jedes WM-Reporters, manchmal sogar mit vorheriger Rückversicherung. Aber dass sich der "Gesamtversicherungswert des deutschen Kaders" auf 1,1 Milliarden Euro beläuft, der von Mexiko hingegen lediglich auf 227 Millionen, das haben wir bisher wohl unterschätzt. Und ist es nicht so: Wer eine derartige Berechnung ausgerechnet am Tag nach einem 0:1 des Titelverteidigers gegen die armen Schlucker vom Rio Grande verschickt, der muss sich seiner Berechnungen schon sehr sicher sein.

Der Tintenfisch aus Oberhausen gilt den Spielvorhersehern in aller Welt bis heute als Guru

Während der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika wurde der Krake Paul weltbekannt, der damals in einem Oberhausener Aquarium seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit nachging: Paul hatte den Ausgang aller deutschen Spiele sowie des Finales korrekt vorhergesagt. Inzwischen sitzen offenbar ganze Institute und Fachabteilungen an dem Thema. "Krake Paul wird quasi digital", schrieb uns bereits am 4. Juni, 8:16 Uhr, der uns bisher unbekannte Olaf Peter Schleichert, Partner und Leiter des Deloitte Analytics Institute, welches offenbar ebenfalls im Bereich Spielprognose tätig ist. Jedenfalls treffe das von ihm entwickelte "Prognosetool Vorhersagen über den Ausgang aller Spiele bis hin zum Weltmeister und kombiniert dabei verschiedene Faktoren wie Mannschaftsbewertungen (ELO-System), historische Ergebnisse und den Austragungsort. Über jeden Faktor kann eine Torerwartung errechnet werden".

Laut des Deloitte-Algorithmus werde Deutschland seine Vorrundengruppe dominieren, mit drei 2:0-Siegen gegen Mexiko, Schweden und Südkorea, Gegner im Achtelfinale werde dann die Schweiz, "die ebenfalls 2:0 geschlagen wird". Dann müssten "deutsche Fans allerdings stark sein", schreibt der Studienleiter in einem Anflug von jovialer Krakenhaftigkeit weiter, denn im Viertelfinale gebe es dann eine "1:2-Niederlage gegen Rekordweltmeister Brasilien". Sein ELO-System wird da kaum irren. Wenn man mal von dem spannenden Detail absieht, dass Deutschland im Viertelfinale unter keinen Umständen auf Brasilien treffen kann.

Der Versicherungsmarkt Lloyd's hat derweil noch Folgendes berechnet: Die Deutschen werden zwar das Finale erreichen, dieses jedoch "nach starkem Spiel gegen Frankreich verlieren". Schon toll, was man mit den Mitteln der Wissenschaft heute alles vorhersagen kann. Krake Paul hat sich damals noch nicht so weit aus seinem Aquariumsfenster gelehnt.

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: