Fußball:Nie mehr Zweite Liga

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Die verpasste WM-Qualifikation gegen die Schweiz und die anschließenden Krawalle in Istanbul zeigen: Die Türkei nimmt Fußball todernst.

Kai Strittmatter

Am Mittwochabend, im Kadiköy-Stadion fand sich Güls Seufzer erneut bestätigt. Wieder sahen einige Türken ihr Türkentum verunglimpft. Wieder sandte die Reaktion der Gekränkten fatale Signale an Europa. Und wieder kapieren viele selbst am Tag danach nicht, was sie angerichtet haben. Die türkischen Zeitungen ignorierten die Prügeleien zumeist, und im Fernsehen durften sich Kommentatoren im Tonfall beleidigter Kinder auslassen: "Aber die haben doch angefangen!" Die Schweizer also. Haben nämlich dreißigtausendfach gepfiffen beim Hinspiel in Bern, bei der türkischen Nationalhymne. Sind also irgendwie selbst schuld.

Sagt hier jemand: "Aber ist doch nur Fußball!?" Ha. Das hier ist ein Land, in dem die Männer sich so begrüßen: "Woher kommst du? Wie heißt du? Für welchen Club bist du?" Regiert werden sie von einem Premier, der sich abseits des politischen Tagesgeschäfts vor allem auf zwei Quellen der Inspiration beruft: den Islam und den Fußball. "Die Leute sind frustriert zu Hause, sie sind frustriert im Büro, im ganzen Land nichts als Probleme - also stürzen sie sich in den Fußball", sagt eine Istanbuler Lehrerin.

Die Türken versteckten ihre Minderwertigkeitskomplexe unter einem übertriebenen Nationalstolz, schrieb der Journalist Suna Erdem einmal - und das mache die Stadien zu Hexenkesseln. Tatsächlich lautete noch vor kurzem der populärste Schlachtgesang: "Europa, Europa, höre unsere Stimme / höre den Klang der anmarschierenden türkischen Schritte". Die Parole ist mittlerweile aus der Mode gekommen, das mag man als ein Indiz dafür sehen, dass die ewig geschundenen Türken mit den Erfolgen ihrer Fußballer in den vergangenen Jahren an Selbstvertrauen gewannen. Fußballsiege sind eine der wenigen Quellen internationaler Anerkennung für die Türken: Hier wenigstens sind sie den Europäern mittlerweile ebenbürtig.

Die Stimmung in türkischen Stadien feuert vor allem die britischen Blut- und Sexblätter immer wieder zu Schlagzeilen an ("Welcome to the terraces of hell"), dass man meint, sie hätten ihre Kriegsberichterstatter losgeschickt, doch muss man fairerweise darauf hinweisen, dass die oft beschriebene Gewalt rund ums Stadion vor allem Opfer unter den eigenen Leuten fordert.

Als die Türkei bei der letzten WM sensationell ins Halbfinale einzog, geriet die Nation außer Rand und Band - die Bilanz der Polizei hernach: Sieben Tote, die unter die Autokonvois jubelnder Fans geraten waren, sowie 24 Unbeteiligte mit Schusswunden, die, meist auf Balkonen, einer bei Freudenschüssen abgefeuerten Kugel im Wege gestanden hatten. Die Fußballer dürfen in der Regel dankbar sein, dass es, wenn's schlecht läuft, bloß Münzen, Handys und Stadionsitze regnet.

Feinde, wohin man schaut

Als die Schweizer Spieler im Eierhagel landeten am Istanbuler Flughafen, da hatte zuvor der türkische Trainer Fatih Terim die Stimmung angeheizt: "Unsere Nation will von euch, dass ihr sie zur Rechenschaft zieht. Spielt für die Ehre der Türkei!", tönte er vor seinen Spielern. Wohlgemerkt: Er verlangte Rechenschaft nicht für das miserable Spiel seines Teams in Bern, sondern für die Pfiffe bei der Nationalhymne. Eine "Schande", wie türkische Zeitungen geschrieben hatten. Eine doppelte Schmach: zugefügt der großen Türkei ausgerechnet von der kleinen Schweiz. Zu einem ungünstigen Zeitpunkt zudem: Da war das unwürdige Gezerre der EU vor dem Start der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober; da sind die Vorfälle in Frankreichs Vorstädten. Ereignisse, die hier zu einem unguten Gefühl beitragen: Die Europäer mögen also doch keine Muslime, und Türken schon gar nicht.

So zogen sie aus, die Schweizer spüren zu lassen, dass es Dinge gibt, mit denen man nicht spaßt in der Türkei: Neben dem Fußball sind dies vor allem Nationalhymne und Flagge. Das mag damit zu tun haben, dass die türkische Republik 1923 hervorging aus dem von Kemal Atatürk angeführten Unabhängigkeitskrieg, dass sie noch jung ist, aber auch damit, dass diese Republik sich im Kampf gegen die europäischen Mächte behaupten musste, dass sie systematisch den Nationalismus als identitätsstiftend pflegte und verherrlichte - und dass erst heute allmählich das Gefühl weicht, das Land sei vor allem von Feinden umgeben.

Wer sich an den nationalen Symbolen vergeht und erwischt wird, tut das nicht ungestraft. Im Oktober wurde ein 30-Jähriger vor Gericht gestellt, weil er eine Büste des Republikgründers Atatürk mit Farbe beschmiert hatte. Das Urteil: 22 Jahre Haft. Und als bei einem Uefa-Cup-Spiel in Istanbul im Jahr 2000 Anhänger des britischen Vereins Leeds United meinten, sie müssten sich in einer Bar öffentlich mit einer türkischen Fahne den nackten Hintern abwischen, da hatte das tragische Folgen: Bei der anschließenden Schlägerei mit türkischen Passanten wurden zwei Leeds-Fans erstochen. Die Zeitung Yeni Savas schenkte gestern den Nationalspielern diese Schlagzeile: "Danke Kinder!" Das war kein bisschen ironisch gemeint.

© SZ vom 17.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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