Fußball in Italien:"Die dürfen nicht mehr in die Stadien"

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Italien staunt: Milan-Profi Clarence Seedorf spricht ungewöhnlich offen über Hooligans und Rassismus.

Claudia Fromme

Clarence Seedorf wollte eigentlich über etwas anderes sprechen, nämlich über seine Stiftung "Champions for Children". Noch nicht ganz 31 Jahre alt ist er und schon Stiftungsgründer. "Als ich sieben Jahre alt war, sah ich im Fernsehen jeden Tag Bilder von hungernden Menschen in Afghanistan", sagt Seedorf. Diese Bilder seien geblieben, das treibe ihn an.

In Kenia, Kambodscha und Brasilien wird er bald Sportschulen eröffnen, in denen die Kinder nicht nur Fußball spielen lernen sollen, sondern auch das, was sie sonst noch brauchen, um der Armut und der Unwissenheit zu entkommen.

Clarence Seedorf hat es geschafft, er ist ein hochbezahlter Fußballprofi. Ein Mann der Rekorde. Der jüngste Spieler in der Vereinsgeschichte von Ajax Amsterdam. Der einzige, der mit drei verschiedenen Mannschaften die Champions League gewann - Ajax, Real Madrid und Milan. Holländischer Nationalspieler, zwischenzeitlich als schwieriger Typ in Ungnade gefallen, seit drei Monaten wieder dabei.

Er besitzt in Mailand ein Restaurant, er hat auch schon Schmuck entworfen und eine Motorsportzeitschrift herausgegeben, er finanziert ein Motorradteam der 125er Klasse. Ein gemachter Mann, Vater von drei Töchtern, das vierte ist unterwegs. Clarence Clyde Seedorf aus Paramaribo, Surinam, hat einen weiten Weg hinter sich.

Heute ist er nur von Mailand nach Rom geflogen. Er trifft sich mit ausländischen Korrespondenten, begrüßt jeden einzelnen mit Handschlag. Das ist an sich schon ungewöhnlich - aber die Profis der Serie A fahren sonst auch nicht durch die Gegend und führen Gespräche. Italienische Fußballspieler werden dazu angehalten, möglichst wenig zu sagen, schon gar nicht Dinge, die nichts mit dem letzten oder dem nächsten Spiel zu tun haben.

"Italien erlebt einen schwierigen Moment"

Die meisten hören sich deshalb an wie Politiker. Sie hantieren mit einem Dutzend Worthülsen, die sie in traumwandlerischer Sicherheit zu verblüffend flüssigen, aber sinnfreien Sätzen montieren. Und wenn sie irgendwann trotzdem nicht mehr weiter wissen, sagen sie: "Fragt den Mister." Das ist ihr Trainer. Der wird auch fürs Reden bezahlt.

Clarence Seedorf wollte eigentlich auch über etwas ganz anderes sprechen. Aber es gibt nur Fragen zu gewalttätigen Hooligans, Rassismus in den Kurven und den Skandalen, in die der italienische Fußball seit geraumer Zeit immer wieder neu versinkt, und - gemessen an italienischen Verhältnissen - ist es doch sehr überraschend, wie offen Seedorf über die aktuellen Probleme spricht.

Sicher, vor ein paar Tagen hatte Ronaldo sein Debüt als Milan-Spieler im Stadion von San Siro. Ronaldo! Vielleicht ist ihm in seiner ganzen Karriere noch nie derart unverhohlenes Desinteresse entgegengeschlagen. Ach, Ronaldo. Wir haben wirklich andere Probleme.

"Italien erlebt einen schwierigen Moment", sagt Clarence Seedorf. Er spricht ein nur leicht holländisch gefärbtes Italienisch. Außerdem spricht er auch noch Englisch und Portugiesisch, mühelos wechselt er von einer Sprache zur anderen, nur das schwedische Fernsehen muss er enttäuschen. "Viele Dinge in Italien müssen besser werden, das hat aber nicht unbedingt nur mit dem Fußball zu tun. Es gibt hier ein soziales Problem." Als er vor zwölf Jahren von Ajax zu Sampdoria Genua wechselte, erzählt Seedorf, "da war Italien noch ganz anders. Es gab kaum Ausländer. Jetzt sieht man sie überall. Und daran gewöhnen sich die Italiener nur langsam".

Rassisten seien sie trotzdem nicht. "Rassismus, das ist ein großes Wort. Ich bin damit sehr vorsichtig. Rassismus habe ich nämlich am eigenen Leib erfahren, allerdings nicht hier. Hier gibt es nur Ignoranz." Die 80.000 gewaltbereiten, überwiegend rechtsextremen Hooligans, die das Innenministerium ausgemacht habe, seien "Kriminelle, aber eine immer noch überschaubare Gruppe. Und die muss man isolieren. Die dürfen nicht mehr in die Stadien".

Er wisse zu wenig über die Verbindungen mancher Klubs zu rechten Ultras-Führern, räumt Seedorf ein. "Man hört eine Menge, aber ob das stimmt? Ich weiß nur, dass wir Spieler auch dazu beitragen können, dass hier endlich so etwas wie eine sportliche Kultur erwächst. Dadurch, dass wir Respekt vor dem Gegner zeigen, Korrektheit und Disziplin. Beim Rugby verhauen sie sich auf dem Platz und anschließend umarmen sie sich. Wieso geht das nicht in der Serie A?"

Vielleicht, weil der Fußball in Italien zu einem riesigen Business degeneriert ist, in dem nur das Resultat zählt? "Dem habe ich nichts hinzuzufügen." Auch der Medienzirkus sei nicht unschuldig daran, dass im Land des Weltmeisters ein andernorts unvorstellbares Klima der Gewalt herrsche: "Manche Fernseh- und Radioprogramme sollte man schließen. Es ist einfach nicht hinzunehmen, dass sich dort erwachsene Männer über Stunden wegen Schiedsrichterentscheidungen derart streiten, dass sie fast handgreiflich werden."

Im Oktober 2005 gab es den ersten Toten des Calcio parlato - den ersten Toten des gesprochenen Fußballs. Der frühere Erstliga-Trainer Francesco Scoglio regte sich bei einer TV-Debatte derart auf, dass er vor laufender Kamera an Herzversagen starb.

In Ronaldos Wohnung

Clarence Seedorf hat gerade seinen Vertrag beim AC Mailand bis 2011 verlängert. Er ist umgezogen, in die frühere Wohnung von Ronaldo beim Meazza-Stadion. Er will in Italien bleiben. "Aber das letzte Jahr war schlimm für uns", sagt er. "Zu sehen, dass wir auf dem Platz alles geben können, und dann werden die Ergebnisse hinter den Kulissen manipuliert, das hat unseren Stolz wirklich tief getroffen."

Er meint die von Juventus Turin betriebenen Schiedsrichtermanipulationen. In den Skandal war auch der AC Mailand verwickelt. Versehen mit acht Strafpunkten, hinkt der Klub nun auf Platz sieben der Champions-League-Qualifikation hinterher.

"Es wird nicht schnell gehen, aber es wird sich etwas ändern in Italien", sagt Clarence Seedorf. Es soll optimistisch klingen. Aber es hört sich verdammt melancholisch an.

© SZ vom 15. Februar 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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