Fußball in England:Aufstand der Spielzeuge

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Die Premier League erlebt die Demütigung ihrer globalen Top-Klubs: Liverpool und die beiden Teams aus Manchester kassieren eine Flut von Gegentoren und erfahren dabei, dass Außenseiter wie Aston Villa ihre Taktik entschlüsselt haben.

Von Sven Haist, London

Da kann selbst Jürgen Klopp nicht mehr lächeln: Liverpools Trainer (rechts) verfolgt das 2:7 gegen Aston Villa. (Foto: Peter Powell/REUTERS)

Die Flut an Gegentoren hat Jürgen Klopp umgehauen. Normalerweise verfolgt der Trainer des FC Liverpool die Spiele im Stehen, in der Schlussphase der Auswärtspartie bei Aston Villa aber ließ Klopp sich auf einer Werbebande nieder, fernab seines Arbeitsplatzes - so, als habe er mit den sieben Toren, die sein Team kassierte, nicht mehr viel zu tun.

Seit Klopp vor fünf Jahren in Liverpool begann, war der Umgang mit exorbitanten Niederlagen meist die Sache seiner Gegenüber gewesen. Ihm selbst war in seiner Trainerlaufbahn einzig beim Start mit Mainz 05 ein ähnliches Desaster widerfahren: vor 14 Jahren, beim 1:6 gegen Werder Bremen. Jetzt aber, nach dem 2:7 am Sonntag im Birminghamer Stadtteil Aston, wühlt England in den Fußball-Geschichtsbüchern nach Vergleichbarem. Die meisten Gegentore, die je ein aktueller Meister in einem Ligaspiel kassierte - seit dem 1:7 des FC Arsenal in Sunderland 1953: Damit hat es Liverpool nun also in die Schlagzeilen geschafft. Was gar nicht so leicht war, nachdem feststand, dass Manchester United wenige Minuten zuvor mit 1:6 Toren im heimischen Old Trafford gegen Tottenham Hotspur unterlegen war. Auch Manchester City, der Zweite der Vorsaison, hatte Ähnliches zu bieten: Dem 2:5 daheim gegen Leicester folgte am Samstag nur deshalb ein 1:1 bei Leeds United, weil der Aufsteiger mit seinen Torchancen schlampte.

"Crazy!" - "verrückt!" Mit diesem Wort fassten die Medien die Turbulenzen in der Premier League zusammen. Und verrückt war es wirklich: In der Chronologie des Inselfußballs, der seit 1888 nun schon 121 Spielzeiten bewältigt hat, lässt sich kein Tag finden, an dem die beiden erfolgreichsten Klubs, Manchester United (20 Titel) und FC Liverpool (19 Titel), nahezu zeitgleich eine solche Zurechtweisung erlebten. Das kostenlose Klatschblatt Metro fragte: "Ist das tatsächlich so passiert?"

Wie aber sind die Ereignisse zu deuten?

Wie aber sind die Ereignisse zu deuten?

Hielt eine höhere Macht die Zeit für gekommen, den drei besten Klubs der Vorsaison mal so richtig die Leviten zu lesen? Oder nahmen Aston Villa, Tottenham und Leeds stellvertretend Rache für all die Burnleys, Sheffields und Fulhams, deren Rolle in der Premier League für die global gehypten Topklubs nur darin liegt, sich wöchentlich als Spielzeug zur Verfügung zu stellen?

Womit man tief in der Taktik wäre: Mehr denn je meinen einige Trainer, mit ihren Spielphilosophien dem Fußball seine Unberechenbarkeit und damit seine Spannung nehmen zu können. Und jetzt hat der Fußball halt eindrucksvoll zurückgeschlagen. Der Kollaps der Branchenführer belegt, dass auf Dauer kein Klub, kein Trainer, kein Spieler und auch keine Spieltheorie größer sein kann als das Spiel selbst. Als Klopp gefragt wurde, wie er sich die schrägen Resultate erkläre, schaute er in die Luft. Eine adäquate Antwort fand er nicht. Das Massenblatt Sun titelte über seine Mannschaft: "Top of the Flops!"

Seit Jahren verfolgt Klopp die Strategie, dem Gegner sofort den Ball wegzunehmen, sobald der ihn mal hat. Diesen Ansatz trieb Liverpool im Duell mit Villa auf die Spitze. Doch gegen den üblichen Impuls, zum eigenen Tor zurückzuweichen, wenn der Ball halt doch mal weg ist, blieb Liverpools Abwehrkette oft einfach stehen. Als wären die als Verteidiger nominierten Profis sich zu schade, nach hinten zu rennen, spielte die Mannschaft ständig auf Abseits - und wurde immer wieder überrannt.

Allein wie in einem Märchenland: Ollie Watkins dreht nach dem vierten Treffer von Aston Villa jubelnd ab. Gegner? Fehlanzeige. (Foto: Peter Powell/REUTERS)

Klopp sagte: "Wir haben alle unsere schlimmen Fehler in ein Spiel gepackt. Unsere Absicherung war unterdurchschnittlich und unsere Körpersprache nicht auf der Höhe." Zur Konfusion trug der spanische Torwart Adrian bei (der den verletzten Brasilianer Alisson Becker vertrat), als er den Ball beim ersten Gegentor verschluderte, anstatt ihn wegzuschlagen. Bei Sky Sports spottete der einstige Abwehrrecke Jamie Carragher über das tollkühne Defensivverhalten seines Herzensvereins: "Schau den Goalie an ...", johlte er ins Mikrofon, nachdem Adrian bei einer Flanke ein weiteres Mal weit am Ball vorbeigesprungen war. Situationskomik.

Im Kontrast zu Klopp, der Fußball im Stile eines Überfallkommandos spielen lässt, lehrt Pep Guardiola bei Manchester City, den Ball endlos in den eigenen Reihen laufen zu lassen. Das Gefühl der totalen Dominanz führte in den Vorjahren dazu, dass es City herzlich egal zu sein schien, welche Spieler nun genau die Verteidigung bildeten. Wie soll ein Gegner denn vors City-Tor kommen, wenn City den Ball besitzt? Mittlerweile hat sich City offenbar selbst müdegekreiselt. Da die totale Kontrolle verloren ist, fallen die Defizite in der Abwehr plötzlich ins Gewicht. Die Statistik wies für Leeds mehr Ballbesitz, mehr Pässe und mehr Torschüsse aus. "Nach einer Sekunde bin ich nicht in der Lage, das Spiel zu analysieren. Ich muss zunächst verarbeiten, wie das Spiel war", meinte Guardiola.

Eine Debatte über die Spielkultur hat Manchester United nicht am Hals, beim Rekordmeister geht es nach drei Spielen schon um fundamentalere Dinge. Seit dem Abschied des Ewigkeitstrainers Sir Alex Ferguson handelt United als einer der umsatzstärksten Klubs der Welt nach der Maxime, sich die teuersten Spieler zusammenzukaufen. Mehr als eine Milliarde Euro wurde seit 2013 in Ablösezahlungen gesteckt. Und nach der höchsten Niederlage in der Premier League (mit dem 1:6 im Derby 2011 gegen City) griff sofort der bekannte Reflex: Kommen sollen der uruguayische Stürmer Edinson Cavani von Paris Saint-Germain und der brasilianische Linksverteidiger Alex Telles vom FC Porto.

Das ohnehin fürchterliche Resultat hätte noch drastischer ausfallen können. Nach der roten Karte für Anthony Martial wegen Tätlichkeit (28.) hätten ebenso Paul Pogba, Eric Bailly und Luke Shaw nach Frustfouls vom Platz gestellt werden müssen. "Peinlich" nannte Trainer Ole-Gunnar Solskjaer das Erlebte: "Ich halte meine Hände hoch, weil ich dafür verantwortlich bin. Es ist mein schlimmster Tag."

Und einer, der eine Revanche enthielt. Denn vor knapp einem Jahr hatte Solskjaer, 47, nach Uniteds 2:1-Sieg über Tottenham triumphierend den Kopf von José Mourinho, 57, getätschelt, der in Manchester sein Vorgänger gewesen war. Jetzt fiel ihm diese Maßlosigkeit auf die Füße. Nach seiner unschönen Freistellung bei United im Dezember 2018 kannte Mourinho mit seinem einstigen Arbeitgeber kein Erbarmen und ließ sein Team um die Doppeltorschützen Harry Kane und Heung-Min Son immer weiter aufs Gehäuse stürmen. "Das ist Geschichte für Tottenham, Geschichte für meine Spieler, und ich kann auch nicht verhehlen, dass es Geschichte für mich ist", teilte Mourinho genüsslich mit.

© SZ vom 06.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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