Fußball-Europameisterschaft:Menschlichkeit und Kuhmilch

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Die Fahne am Auto erhöht die Stimmung - und den Spritverbrauch. Aber mir is des sooo wurscht: Ein Aufwärmtraining für deutsche Fans zur Fußball-Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz.

Holger Gertz

15 Nordfriesinnen

Wie schon bei der WM 2006 schmücken viele deutsche Fans auch für die Europameisterschaft ihre Autos mit Fahnen. (Foto: Foto: dpa)

Eigentlich müsste man sofort losfahren, runter nach Graubünden, wo schon an diesem Wochenende die Europameisterschaft beginnt. In Graubünden, dem einzigen dreisprachigen Kanton der Schweiz, treten die Vertreter der Sprachminderheiten zu ihrer EM an, sozusagen die Nationalmannschaften der Letzten ihrer Zunft. Teilnehmen darf nur, wer eine dieser aussterbenden Sprachen perfekt beherrscht. Zwanzig Mannschaften werden erwartet, unter anderem die Okzitanier, die Sorben, die Nordfriesen. 10.000 Menschen sprechen noch friesisch, junge Männer sprechen es fast gar nicht mehr, junge Frauen dagegen schon: Frauen haben oft ein sinnlicheres Verhältnis zur Sprache. Der Teamchef der Nordfriesen hat deshalb 15 Frauen gemeldet, die gegen all die Männer spielen werden, und vielleicht haben die Friesinnen eine Chance, den Zauber der Zimbern nicht wirksam werden zu lassen.

Die Zimbern sind der große Außenseiter bei der Europameisterschaft der Sprachminderheiten. Sie schicken eine Dorfauswahl aus der Gemeinde Lusern in Norditalien, weil sich in der Abgeschiedenheit von Lusern das Zimbrische, ein Sprachgemisch aus Bairisch, Italienisch und Mittelhochdeutsch, bestens gehalten hat. Ein großer Teil der vielleicht 300, vielleicht 500 Einwohner von Lusern trägt übrigens den Familiennamen Nicolussi, ein großer Teil der Spieler ebenso. Der Mann, der die Trikots der zimbrischen Mannschaft beflockt, hat also einen relativ langweiligen Job. Als Führungsspieler gelten: Manuele Nicolussi Paolaz, Daniel Nicolussi Paolaz, Rodolfo Nicolussi Moz.

Das Finale der Europameisterschaft der Sprachminderheiten findet statt am 7. Juni, 12 Uhr, in Chur. Ein Kleiner wird schon ziemlich groß sein, wenn das echte Turnier beginnt.

Wissen versus Fühlen

Mitfühlen ist ein Weg, als Zuschauer mit Gewinn durch die echte EM zu kommen, sich einen Kleinen aussuchen und ihm alles Glück wünschen, das er braucht. Das Publikum bei so einer Großveranstaltung teilt sich in Wissende und Fühlende. Die Wissenden wussten bei der vergangenen Europameisterschaft, dass die Griechen einen grauenvollen Museumsabwehrfußball spielten, den ihr Trainer Otto Rehhagel in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts beim TuS Helene Essen selbst gelernt hatte.

Die Fühlenden aber sahen das traurige Gesicht des griechischen Stürmers Charisteas, der auch noch Angelos mit Vornamen hieß. Als er im Endspiel erst wie üblich ungelenk herumgaloppierte, um schließlich tatsächlich zu treffen und die Griechen zum Europameister zu machen, war die Geschichte rund. Seitdem hat er praktisch kein Tor mehr geschossen, dafür fallen ihm die Haare am Hinterkopf aus. Angelos Charisteas bringt viel mit, um ein Held zu werden auch bei dieser EM.

Josko Fenster Ried

Adressat des allgemeinen Mitgefühls ist in diesem Jahr natürlich Österreich. Die Österreicher sind sehr unglücklich mit ihrer Nationalmannschaft. Sie spielt nicht besonders gut. Die Österreicher sind ein bisschen wie die Zimbern. Die Grundlage für eine gute Nationalmannschaft ist eine ordentliche Liga mit vielen Talenten. Beides hat Österreich nicht. Österreich hat eine Liga mit viel Werbung, die der Spieler auch am Gesäß tragen kann.

Außerdem haben die Vereine die Sponsoren in ihren Namen aufgenommen, was den Fans nicht gefallen hat. Sie haben sich abgewandt von Klubs, die Cashpoint SCR Altach heißen, SV Josko Fenster Ried oder SCS bet-at-home.com. Kann man sich vorstellen, dass eine ganze Tribüne brüllt: "Scheiß SCS bet-at-home.com, wir singen Scheiß SCS bet-at-home.com?" Kann man sich umgekehrt einen Fan vorstellen, der in "SCS bet-at-home.com"-Bettwäsche schläft? Es ist etwas furchtbar schiefgelaufen im österreichischen Fußball.

Auf der nächsten Seite: Warum man sich an die EM-Maskottchen gewöhnen muss und TV-Zuschauer unbedingt ORF-Übertragungen wählen sollten.

Trix, Flix und Flop

Es ist auch was schiefgelaufen bei der Fertigung der Maskottchen, die eine bittere Tradition fortsetzen. Zu allen großen Turnieren, Fußball oder Olympia, misten irgendwelche Puppenbauer ihre Restetruhen aus und flicken aus dem, was sie finden, etwas zusammen. Die Turniere sind auch deshalb so lang, damit das Publikum Zeit hat, sich an die Maskottchen zu gewöhnen. Die Zeit reicht meist nicht aus. Bei den Olympischen Spielen in Athen 2004 amtierten zwei Maskottchen, die Athene und Phoibos hießen und auf den ersten Blick aussahen wie Nackenstützen mit Füßen. Auch nach Ende der Veranstaltung sahen sie aus wie Nackenstützen mit Füßen, von Olympia-Touristen konnten sie beim Rückflug ihrer Bestimmung entsprechend genutzt werden.

Goleo, der Löwe der WM 2006, trug keine Hose, wurde bei parallel zur WM ausgetragenen Jagd auf den Bären Bruno zweimal versehentlich fast erschossen und ritt seine Herstellerfirma schließlich in den Ruin. Die Maskottchen dieser EM heißen Trix und Flix, was klanglich an Fix und Foxi erinnert, optisch allerdings sind sie eindeutig Wiedergänger des Ku-Klux-Clans, auch wenn die Kapuzen in diesem Fall verharmlosend in Form von Gipfelketten gestaltet sind. Auf keinen Fall sollte man diese Maskottchen vor der EM kaufen. Nach der EM gibt es sie auf Ebay für einen Euro fünfzig.

Wir schlogn Poin

Gedanklich ist es kein weiter Weg von von Trix und Flix zu Netzer und Delling, und wer sich in diesem Zusammenhang die Frage stellt, bei welchem Sender er die EM schauen soll: Unbedingt "beim Österreicher", wie der ORF in Deutschland zärtlich genannt wird. Die Fußballberichterstattung im deutschen Fernsehen ist erstickt. Netzer und Delling im Ersten sowie Kerner, Klopp und der Schweizer Schiedsrichter im Zweiten labern einen Raum zu, der mit tollen Live-Interviews vom Rande des Spielfeld besser gefüllt wäre. Die Österreicher sind gnadenlos, sie schicken ihre Mikrofonträger an die Front zu den österreichischen Spielern, und weil diese oft verlieren und in der Niederlage sich selbst noch eindrucksvoller bejammern als sonst, entstehen Dialoge von großer Wucht.

Dietmar "Didi" Kühbauer, Rapid Wien, zu einem Reporter in einem ORF-Interview: "Was Sie da sagen, ist für die Würschte!"

Günther Neukirchner, Sturm Graz, zu einem Premiere-Reporter: "Das ist jetzt die nächste depperte Frage!"

Hans Krankl, Teamchef, nach einem 3:3 gegen Nordirland: "Wir spün nächstes Johr gegen Polen aus . . . aus . . . auswärts. Wir schlogn Poin und wir schlogn Wales und wir schlogn Wales zwa moi und mir is des sooo wurscht."

Pochers Kerngeschäft

Die EM zu überstehen, heißt auch, Oliver Pocher zu entgehen, was schwierig werden wird, denn diese EM ist von seinem Sender ARD als komplexe Wiederaufbereitungsanlage angelegt, was Pocher betrifft. Dessen Zusammenarbeit mit dem gemütlichen Harald Schmidt hatte bislang nicht ganz den erwarteten Effekt, Pocher ist mit gewissem Recht auch von jenen Medien verprügelt worden, die seine Ankunft im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit Begeisterung registriert hatten. Da hat Pocher es gemacht wie große Firmen, deren Bosse merken, dass sie zu schnell gewachsen sind: Sie besinnen sich auf das Kerngeschäft.

Pochers Kerngeschäft ist das Nachmachen berühmter Persönlichkeiten. Politiker kann er nicht, weil er von Politik nichts versteht, wie er auch von Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft nichts versteht. Also bleibt ihm das Nachmachen von Fußballern des FC Bayern. Konkret: Pochers Kerngeschäft ist das Parodieren von Oliver Kahn. Um Kahn zu werden, kneift Oliver Pocher die Augen zusammen, spricht in einer hohen Stimmlage, trägt ein Trikot, auf dem zur Sicherheit KAHN steht und brüllt schmerzhaft auf, sobald ihm das Schlüsselwort "Klinsmann" hingeworfen wird. Der Kahn-Klinsmann-Konflikt ist aber schon sehr ausgelutscht. Pochers Parodie ist eher schwach.

Mark van Bommel kriegt er ganz gut hin, aber einen Holländer kann jeder imitieren, ein Holländer ist so leicht wie Reich-Ranicki. Weil Pocher inzwischen nicht nur in der Late-Night als Kahn auftritt, sondern auch in anderen Teilen des Programms, zum Beispiel neulich in der Sportschau, geht er einem bereits mehr auf den Geist als der echte Kahn manchmal in seiner ganzen langen Karriere.

Auf der nächsten Seite: Ivanov, der Schreckliche, wie man sich einen Materazzi erstellt und warum man kein Sommermärchen erwarten darf.

Ivanov, der Schreckliche

Während der echte Kahn, wenn man sich Lehmann so anschaut, bei dieser EM vielleicht doch besser im Tor stünde - aber ihn jetzt noch zu fordern, wäre sozusagen "für die Würschte". Dennoch, das gehört zum Beiprogramm einer EM: Lieblingsmannschaften aufstellen, Legendentruppen der EM, Traumteams. Eine große Hilfe bei der Nominierung der famosesten EM-Kader aller Zeiten ist das dicke Buch "EURO Cup", in dem der Panini-Verlag sämtliche EM-Sammelbilder seit 1980 noch einmal veröffentlicht. Das Buch kostet so viel wie die mittelgroße Plüschausgabe von Trix und Flix, das Geld ist hier aber besser angelegt.

Der stämmigste Tormann ist eindeutig Piet Schrijvers aus Holland (EM 80), der belgische Verteidiger Luc Millecamps (EM 84) sieht aus wie The Animal aus der Muppet-Show, Peter Reid aus England (EM 88) hat Ohren wie Henkel, bei den Deutschen machte 1992 ein längst vergessener Fußballer namens Manfred Binz mit, und von den 18 abgebildeten Bulgaren des Jahrgangs 1996 tragen tatsächlich 15 Nachnamen, die auf -ov enden, einer davon heißt Trifon Ivanov.

Wer das Sammelbild von Ivanov früher auf die Kacheln in der Küche geklebt hatte, der konnte beim Abschrecken der Eier auf das kalte Wasser leicht verzichten.

Ich erstelle mir Materazzi

Alter Witz: Was macht ein Engländer, nachdem er die EM gewonnen hat? Er schaltet die Playstation aus.

Die Playstation ist natürlich immer ein Weg, um sozusagen virtuell in die EM einzugreifen, die Playstation ist anders als richtiger Fußball, allerdings werden die echten Spieler und die Computer-Spieler sich immer ähnlicher. Wenn einer wie Thierry Henry Playstation spielt, muss es ihm vorkommen, als sähe er sich selbst aus großer Höhe beim Fußball zu. Die Playstation scheint die Leute außerdem innerlich auf die unerfreulichen Zeiten des flächendeckenden Klonens vorzubereiten. Ein Eintrag eines Playstation-Fans auf einer entsprechenden Webseite: "Kann es sein, dass Materazzi wieder außen vor gelassen wurde? Er fehlte schon letztes Jahr, und ich musste ihn mir selber erstellen."

Wer dermaßen tief vordringt in den Maschinenraum des Computerspiels, tritt als eine Art Frankenstein wieder ans Licht der Welt. Es gibt andere Möglichkeiten, bessere, die Partien vor- oder nachzuspielen. Es gibt immer noch die eisernen Tipp-Kick-Männchen, die seit 80 Jahren von der Firma Mieg produziert werden. 1954 führte die Firma den beweglichen Torwart ein, sonst hat sich nichts geändert. Beim Tipp-Kick funktioniert Fußball immer noch wie zu Zeiten des Wunders von Bern. Neuerdings kriegen die Männer zu jedem Turnier das aktuelle Nationaltrikot aufgemalt, aber Fußballer mit dem Gesicht von Ballack oder van der Vaart gibt es nicht. Die Gussform wäre zu teuer.

Schade, dass Robert Huth nicht mehr in der Nationalmannschaft steht, der exakt über die eingefrorene Mimik der Tipp-Kick-Figuren verfügt, aber er war zu lange verletzt. Verletzt sich ein Tipp-Kick-Mann, kann man ihn immer noch in die Reparatur geben. Bei der Firma Mieg arbeitet ein Fachmann, der 1954 auch den beweglichen Torwart erfunden hat. Er heißt Franz Rusch. Franz Rusch hat schachtelweise Ersatzfüße und Zweitbeine sowie Knöpfe zum Draufschrauben. Alterslos und uneingeschränkt belastbar wie der ewige Nationalmannschaftsarzt Müller Wohlfahrt im echten Fußball heilt er den, der zu heilen ist.

Tranquillo

Das Wichtigste, damit die EM keine Enttäuschung wird: Kein Sommermärchen zu erwarten. Erstens filmt nicht Sönke Wortmann, zweitens ist der Begriff sowieso auf dem Index, drittens findet sie in Österreich und der Schweiz statt, dort wohnen nur wenige heißblütige Deutsche. Stattdessen hat sich der Schweizer Führungsspieler Barnetta - ein Mann mit dem beziehungsreichen Vornamen Tranquillo - beim Training verletzt: Kapselläsion. In Österreich ist das große Werbebanner auf dem Riesenrad im Prater längst von einem Orkan abgeräumt worden, und vor ein paar Wochen wussten nur fünf Prozent der Menschen, wer Trix und Flix sind.

Wer etwas tun will für die Stimmung, hängt sich ein Autofähnchen an den Wagen, in Deutschland hat das geklappt, aber in der Schweiz hat der dortige TÜV empfohlen, die Fähnchen nur an den hinteren Seitenfenstern anzubringen, vorn stören sie die Sicht.

In Österreich hatten Juristen lange auf das Kraftfahrgesetz Paragraph 54 und die Durchführungsverordnung Paragraph 26a hingewiesen, in denen festgelegt ist, nur der Bundespräsident dürfe eine Fahne am Auto haben, dafür aber auch an jedem Tag außerhalb der EM. Im letzten Moment wurden die Bestimmungen außer Kraft gesetzt, man darf jetzt Fahnen raushängen, allerdings meldete sich sofort der Umweltexperte des Österreichischen Automobilclubs: Autofahnen seien teuer, Stichwort Windwiderstand. Je mehr es flattert und je schneller man fährt, umso mehr Sprit verbraucht man.

Es sind kleine, ordentliche Länder, die diese EM veranstalten; Länder, in denen man gern ein Glas kühle frische Kuhmilch trinkt. Sie scheinen sich darauf festgelegt zu haben, der EM mit Würde zu begegnen, mit Gelassenheit; sie sind bereit, den Fußballer als Mensch zu begreifen, nicht als Maschine. Der Zürcher Tages-Anzeiger hat gerade in einem kleinen Sprachkurs wesentliche Begriffe noch einmal ins Bewusstsein gerufen: "Wo der Schweizer rüde sagt, ein Spieler habe sich ,uskotzet', stellt der Österreicher fest: ,Dem hängt scho des Beischl auße.'"

© SZ vom 31.05.2008/mb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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