Fußball:Auf Hühnerjagd

Lesezeit: 4 min

Im modernen Kettenverschiebefußball der letzten Jahre galten Dribbelkünstler als seltsame Solisten. Im Streben der Fußballklubs nach der Schönheit des Spiels gewinnt die Rolle der Balltanz-Virtuosen jedoch zunehmend an Bedeutung. Sogar - oder besonders - bei Felix Magath.

Christof Kneer

Womöglich hat sich der deutsche Fußball einfach zu wenig mit Hühnern beschäftigt. Wenn es ihm nicht gut ging, wurde immer nur der Straßenfußballer beschuldigt, weil der angeblich die Frechheit besaß, ungefragt auszusterben.

Kleiner Mann, großer Künstler: Mehmet Scholl. (Foto: Foto: dpa)

Vielleicht hätte man besser dem Farmfußballer nachtrauern sollen, aber in Geschichte hatte natürlich wieder keiner aufgepasst. So wusste niemand, was Uruguays Stürmerstar Andrade der erstaunten Weltpresse im Jahre 1924 mitgeteilt hatte, nach Uruguays Sieg beim olympischen Fußballturnier in Paris.

Sie hatten eine neue, aufregende Art Fußball zur Aufführung gebracht, sie hatten den Ball nicht nach vorne gehauen, sondern hakenschlagend nach vorne getragen. Beim Hühnerjagen hätten sie das geübt, erklärte Andrade also, und dass die Hühner beim Flüchten S-förmige Schleifen machen würden, weshalb die Kunst des Dribblings moñas (Schleifchen) heiße.

Häßler? Schneider? Ach nee

Der deutsche Fußball hätte wahrscheinlich einfach ein paar Hühnerjäger mehr gebraucht in den letzten Jahren, er hatte ja ohnehin nie so viele, die die S-förmige Schleife beherrschen.

Er hatte zuletzt den Knuddeldribbler Häßler oder den Hilfsbrasilianer Schneider, aber in Wahrheit sind das nie die Spieler gewesen, die Deutschland wirklich wichtig waren. Man hat sie immer gerne gehabt, weil mit ihnen quod erat demonstrandum zu beweisen war, dass der deutsche Fußballer nicht nur staubsaugen und wasserträgern kann.

Aber man hat diese Art von Spielern immer als Kür begriffen, nie als Pflicht. Sie waren die Kringeldreher unter lauter Tugendbolden - aber nun, da sich die Saison 2004/05 dem Ende zuneigt, darf man bilanzieren, dass zumindest die Liga die Hühnerjäger wieder für sich entdeckt hat.

Nirgendwo lässt sich dieser Trend besser ablesen als in München, beim FC Bayern. Dort haben sie gerade stolz die Verpflichtung des Iraners Ali Karimi verkündet, dessen besondere - manche meinen: einzige - Begabung im versierten Balltanz besteht.

Des weiteren beschäftigt der FC Bayern die Artisten Bastian Schweinsteiger, Mehmet Scholl und immer noch Zé Roberto, woraus sich das vermutlich höchste Dribbleraufkommen in der Ligageschichte ergibt; zumal auch noch Linksverteidiger Philipp Lahm heimkehrt, der im Bedarfsfall gleichfalls als Schleifchenbinder zu gebrauchen ist.

Keegan, Littbarski, Volkert

Niemand muss meinen, dass es sich hier um einen persönlichen Spleen von Felix Magath handelt, und zum Glück sind auch die Zeiten vorbei, da ihm vom Boulevard möglicherweise niedere Motive unterstellt worden wären. Hähä, der Magath, hätten sie vermutlich gefeixt, holt einen Künstler, einen asiatischen, den kann er jetzt schön schleifen.

Aber Magath ist ein Stratege, er weiß genau, was er tut. Er hat in seiner Karriere mit Kevin Keegan und Pierre Littbarski zusammengespielt und auch mit dem Linksaußen Georg Volkert, "dem perfekten Dribbler", wie Magath sagt. Er weiß, was diese Abenteurer einer Mannschaft geben können, und er weiß auch, dass in seinem Mittelfeld Michael Ballack und Torsten Frings spielen, gute Techniker, aber eher schweren Schrittes.

Magath weiß, dass er eine zweite Farbe braucht, wenn er wahrmachen will, was er zu Saisonbeginn kess angekündigt hat: dass er diesen FC Bayern umerziehen wolle, hin zum Aktiv-, weg vom Passivfußball. Er weiß, dass er dazu die Leichtfüße braucht mit ihren Tempo- und Rhythmuswechseln.

"Karimi war ein gezielter Transfer", sagt Magath, "für uns sind die Dribbler ein Kriterium für besseres Offensivspiel, und ich kann ja nicht die ganze Verantwortung auf Schweinsteiger und Scholl abladen. Schweinsteiger ist noch jung, er hat noch Schwankungen im Spiel, und Scholls Probleme sind bekannt."

Mindestens einer muss fit und gut gelaunt sein

Also hält sich Magath aus Gründen der Betriebssicherheit lieber mehr Dribbler im Kader, als er einsetzen kann - er will sicher gehen, dass er mindestens einen hat, der gerade gesund und gut gelaunt ist.

Was sich in München vollzieht, darf aber auch als exemplarisch für eine Sportart gelten, in der der FC Barcelona mit Ronaldinho, Deco und Giuly derzeit das stilbildende Mittelfeld stellt. Die neuen Dribbler sind zumeist Zwischenwesen, ein bisschen Spielmacher, ein bisschen Flügelstürmer, ein bisschen hängende Spitze.

Auch in der Bundesliga haben einige Teams in dieser Saison auffällig von den Künsten ihrer Eins-gegen-Eins-Experten profitiert: Bayern von Schweinsteiger und Scholl, Schalke von Lincoln, der VfB Stuttgart von Aleksandar Hleb, Hertha BSC von Marcelinho und Yildiray Bastürk.

"Solche Spieler werden vor allem für Mannschaften immer wertvoller, die das Spiel machen müssen", sagt Magath, "wenn der Gegner sich hinten reinstellt, brauchst du sie mehr denn je." Das heißt: Je besser die Mannschaft, desto wichtiger die Dribbler.

Man kann sagen, dass der Fußball gerade dabei ist, sich eine spezielle Art von Schönheit zurückzuerobern. Man hat ja zuletzt nicht mehr so viel erwartet, weil man bei großen Turnieren oft vorher wusste, dass sich die Teams mit hochwertigen Abwehrketten gegenseitig fesseln.

Seltsame Solisten

Das Spezialistentum galt als altmodisch, und Dribbler waren seltsame Solisten, die unter dem Generalverdacht der sinnfreien Schönspielerei standen; es dominierte der multifunktionale Mannschaftsdiener, der taktisch so gut geschult war, dass am Ende oft das Spiel zu kurz kam.

Aber der Fußball lässt sich das Spielen nicht verbieten, er hat sich jetzt so entwickelt, dass er seine Trickser und Gaukler wieder dringend braucht.

Es ist so eng geworden im modernen Kettenverschiebefußball, dass man manchmal meinen könnte, das Spiel würde neuerdings zu zwölft betrieben - und wenn das Spiel dann irgendwo im hohen Verkehrsaufkommen stecken bleibt, helfen oft nur noch die Dribbler.

Sie sind die Kettensägen des modernen Fußballs. Sie sägen sich auch dort hindurch, wo selbst der gepflegteste Pass nicht mehr durchkommt.

Aber woher nehmen, künftig? "In Deutschland tut man sich schwer, junge Spieler mit dieser Begabung zu finden", sagt Magath, und Hermann Gerland, Bayerns Amateurtrainer und Experte für Aufzucht und Hege, macht ihm da keine großen Hoffnungen.

"In unserem Nachwuchsbereich sehe ich derzeit kaum einen, der das könnte", sagt er. Da hilft wohl nur noch eines: ein Trainingslager auf der Hühnerfarm.

© SZ vom 13.5.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: