Frankreich:Zum späten Glück gezwungen

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Um eine leistungsfähige Mannschaft zusammenzubekommen, scheute Frankreichs Trainer Raymond Domenech auch Erpressung nicht.

Ralf Wiegand

Wenn die Geschichte stimmt, ist sie gut. Und falls sie nicht stimmt, ist sie immerhin gut erzählt. Lilian Thuram, 34, ist sowieso ein wunderbarer Erzähler.

"In meinem Alter verschwendet man nicht mehr gerne seine Zeit" - Lilian Thuram. (Foto: Foto: dpa)

Die langen Arme liegen ruhig auf dem großen Tisch vor ihm, manchmal faltet er die Hände, nicht wie zum Gebet, sondern um sich mit sich selbst zu verankern.

Gute Erzähler falten gern die Hände, sie brauchen keine Gesten. Die französischen Nationalspieler sind nicht nur deshalb die erwachsensten dieser WM, weil sie die ältesten sind. Sie haben auch am meisten Stil. Sie haben keinen Aufpasser, keinen Moderator für das Frage-Antwort-Spiel mit der Presse.

Sie setzen sich einfach vorne hin, ihre Augen fliegen über die Stuhlreihen, immer den Ohren nach, dorthin, von wo die Frage kam. Meistens entwickelt sich ein Gespräch, manchmal eine Diskussion. Und Lilian Thuram erzählt eben.

Was er zu berichten hat, ist die entscheidende Episode seines Comebacks in der Équipe Tricolore, die - wie gesagt, es ist eine gute Geschichte - auf Erpressung beruht. Nichts habe ihm ferner gelegen, sagt Thuram, als in diese Mühle zurückzukehren, aus der er 2004, nach der Europameisterschaft, ausgestiegen war.

"In Portugal damals, das war Zeitverschwendung", sagt er, "aber in meinem Alter verschwendet man nicht mehr gerne seine Zeit." Aber dann, etwas mehr als ein Jahr später, habe ihn Trainer Raymond Domenech um ein Gespräch gebeten. Das muss, auf der Basis von Thurams Bericht, so abgelaufen sein:

Domenech: "Ich möchte gern, dass Sie in die Mannschaft zurückkehren."

Thuram: "Ich will aber nicht."

Domenech: "Sie wissen, dass ich Sie dazu zwingen kann."

Thuram, heiter: "Bitte?"

Domenech, ernst: "Ich kann Sie einfach berufen. Dann dürfen Sie gar nicht ,Nein' sagen, dann müssen Sie kommen. So steht es in den Statuten. Sonst gäbe es Konsequenzen."

Thuram, lachend: "Aber wenn Sie mich zwingen, könnte ich schlechte Stimmung verbreiten."

Domenech, keineswegs lachend: "Trotzdem. Ich will es so. Denken Sie darüber nach."

Zeichen der Anerkennung

Lilian Thuram hätte nun die Polizei rufen, sich bei der Verbandsspitze beschweren oder wenigstens eine Zeitung seines Vertrauens in selbiges ziehen können. Er tat nichts davon, denn die Erpressung schmeichelte ihm mehr, als sie ihn besorgte.

"Ich war nicht überzeugt, dass ich der Mannschaft etwas bringen kann", behauptet Thuram, aber der Trainer war sich so sicher, dass er nach diesem Gespräch noch mehrmals bei dem Verteidiger von Juventus Turin anrief, um ihn zu beeinflussen.

Das Verhalten Domenechs sei für ihn "ein großes Zeichen der Anerkennung" gewesen, und so etwas gefällt auch einem Spieler noch, der schon alles erlebt hat. Thuram, aufgewachsen auf Guadeloupe, ist französischer Rekordnationalspieler, am Mittwoch in München gegen Portugal kommt er höchstwahrscheinlich zu seinem 120.Einsatz.

Er war Welt- und Europameister, hat mit Juventus Turin ein paar Mal die italienische Meisterschaft gewonnen. Er ist von der französischen Regierung in den Integrationsrat berufen und für seinen engagierten Kampf gegen Rassismus mehrmals ausgezeichnet worden.

Er hätte Besseres zu tun - aber letztlich ist er vor allem ein Fußballer, der nicht widerstehen konnte, als der Trainer zu ihm sagte: Junge, ohne dich ist das alles doch nichts, komm' schon.

Andere Motive

Darin liegt wohl eines der Geheimnisse dieser Mannschaft, deren Einzug ins Halbfinale eine Überraschung, wenn nicht eine Sensation ist. 2002 in Korea liefen die damaligen Weltmeister wie seelenlose Hüllen über den Platz, animierte Abziehbilder der Champions von einst, die ihre Halbwertzeit überschätzt hatten.

Diesmal aber sind sie, obwohl noch einmal vier Jahre älter, aus anderen Motiven bei der WM. Es ist nicht mehr die quälende Verlängerung einer alten Liebe, die sie treibt, sondern der Schwung eines späten, neuen Glücks. Zinédine Zidane etwa hat sich selbst zu einem Comeback entschlossen, "niemand würde Zidane fragen", sagt Lilian Thuram.

Er selbst immerhin hat, wenn nicht überzeugt von der Mission, dem Plan seines Trainers vertraut. Im Grunde sind die sechs alten Weltmeister alle im Geiste Oliver Kahns zu dieser Mannschaft gestoßen - bereit, ihr durch Erfahrung und Ruhe ein paar Haltegriffe zu bieten und selbst dabei den größtmöglichen Spaß zu haben unter geringstmöglicher Beachtung des eigenen Egos. Im Gegensatz zu Kahn dürfen sie auch spielen.

Jüngere Profis wie Franck Ribéry nehmen das dankend an. "Jeder Spieler der Welt würde gerne mit solchen Leuten spielen", sagt er.

Thuram weiß, dass so ein Gefüge sehr zerbrechlich, weil nur vom Erfolg getragen ist. "In zwanzig Minuten kann alles kaputtgehen", mahnt er, aber er macht auch den Eindruck, als würde er alles tun, um diese Geschichte bis zum Ende zu schreiben.

Thuram hat schon eine gelbe Karte, "aber ich werde nicht daran denken, ich werde handeln wie immer". Das gegen Portugal könnte sein letztes Spiel sein, sollte er ein weiteres Mal verwarnt werden. Aber diese Mannschaft wäre es ihm sogar wert, ihr seinen Finalplatz zu opfern.

Thuram erinnert sich an die Reise nach Martinique, im November vergangenen Jahres war das, es gab ein Benefizspiel gegen Costa Rica. Sie waren weit weg von daheim, wo die Straßenschlachten in den Vororten von Paris tobten.

Miteinander verschweißt

"Wir hatten damals mehr Zeit als sonst bei einem Testspiel, das gab uns die Gelegenheit, uns als Menschen kennenzulernen." Seitdem singt Thuram eine Hymne auf das Team. "Was auf Martinique passiert ist, das hat mich wirklich berührt", sagt er.

Er habe in den Tagen in der Karibik gespürt, "dass diese Gruppe wirklich unverdorben ist. Ich spürte, wir sind ein Block, jeder Spieler ist bereit, das zu geben, was der andere verlangt. Wir sind miteinander verschweißt." Und dass die Gruppe auch bei dieser WM funktioniert, könne man schon allein an den Ergebnissen sehen: "Ein Team, in dem es nicht stimmt, erzielt keine Ergebnisse."

Das sollte genügen, um den Portugiesen Respekt einzuflößen und jedem Finalgegner auch. Die Franzosen fliegen auf einer Wolke durch diese WM, einer Wolke aus Weisheit und Pathos. Sie wirken wie alte Schulfreunde, die sich 20 Jahre später treffen und die Orte ihrer Kindheit suchen.

Der Trip könnte sie wieder auf die Champs-Élysées führen, wie 1998 die Weltmeister Zidane, Henry, Trézéguet, Barthez, Vieira und Lilian Thuram.

Und wenn nicht - Lilian Thuram überlegt nicht lange. "Egal, was passiert, ich bin froh, dass ich da bin und das erlebe. Ich bin ganz ich selbst." Was für eine Geschichte!

© SZ vom 5.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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