Frankreich:Kleiner Kopfkanonier

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Elegant auch in der Abwehrarbeit: Antoine Griezmann klärt per Hacke. (Foto: Frank Fife/AFP)

Antoine Griezmanns zauberhafter Kopfball gegen Deutschland war nicht sein erster dieser Art.

Von Javier Cáceres

Wer den Franzosen Antoine Griezmann verstehen will, kommt an einem kleinen, südamerikanischen Land namens Uruguay nicht vorbei. Am Dienstag trug Griezmann nach dem 2:1 Frankreichs gegen Deutschland in Saint-Denis zwar nur gute Laune und, anders als sonst, weder Thermoskanne noch Kalebasse mit Mate vor sich her; den Verzehr des Aufgussgetränks, das am Silberfluss populär ist, hatten ihm Uruguayer beigebracht, mit denen er vor Jahren bei Real Sociedad San Sebastián zusammengetroffen war. Uruguay war dennoch präsent: durch das erste der beiden Tore, die "Grizou" dem Bayern-Torwart Manuel Neuer einschenkte. "Ein Science-Fiction-Kopfstoß", wie die Zeitung El País in Madrid schmachtete, wo Griezmann beim Erstligisten Atlético angestellt ist, dem nächsten Gegner von Borussia Dortmund in der Champions League.

Das Tor war auch deshalb bemerkenswert, weil Griezmann nur 175 Zentimeter misst. Doch das Kopfballspiel beherrscht er wie ein Gigant, dank uruguayischer Einflüsse. Bei Real Sociedad feierte er mit 17 sein Profidebüt unter dem uruguayischen Trainer Martín Lasarte; in der Mannschaft spielte ein Stürmer gleicher Nationalität, Carlos Bueno. Beide nahmen sich Griezmanns Kopfballspiels an, und der Franzose perfektionierte es durch die Elemente, die im Fußball alles bedeuten: Instinkt und Imitation. "Antoine hatte eine Antizipation und einen Sprung aus dem Stand, die überdurchschnittlich waren", erzählte Lasarte einst der El País. "Von Bueno schaute er sich ab, seinen Luftraum mit den Armen und Ellenbogen zu verteidigen. Er machte derartige Fortschritte, dass wir ihm sogar auftrugen, bei Eckbällen zu verteidigen. Und er erfüllte dies!"

"Er musste lernen, zu schleichen, sich zu verstecken", sagt sein früherer Trainer Tayfun Korkut

Griezmanns Kopfballtor gegen Deutschland, dem noch ein verwandelter Elfmeter folgte, zeigte eine andere Tugend Griezmanns: seine Fähigkeit, Räume zu erahnen. Als ihm sein Vereinskollege Lucas den Ball an den Kopf drosch und Griezmann ihn mit einer bezaubernden Nackenbewegung aus 14 Metern ins Netz lenkte, stand kein deutscher Verteidiger in seiner Nähe, er konnte unbedrängt zum Kopfstoß ansetzen. "Ich habe versucht, den Ball mit der Stirn zu treffen und der Bewegung Kontinuität zu verleihen. So war das perfekt", sagte Griezmann später.

"Er war immer der Kleinste", erzählt Tayfun Korkut, bis vor wenigen Tagen Trainer beim VfB Stuttgart und vor Jahren, als Griezmann noch im Wachstum begriffen war, Nachwuchstrainer bei Real Sociedad. Korkut kann sich noch an eine Sitzung der Nachwuchsabteilung erinnern, die Scouts nahmen da von der Neigung Abstand, Griezmann wegen seiner Größe auszusortieren. Stattdessen hoben sie seine außergewöhnlichen Fähigkeiten hervor und lobten, dass er seine Schwächen zu vertuschen wisse: "Seine mangelnde Größe zwang ihn, seine Schwächen zu kompensieren. Er musste lernen, zu schleichen, sich zu verstecken, den Ball abzugeben, ehe es zum Körperkontakt kam."

Das Gegenteil davon habe am Dienstag Paul Pogba verkörpert. Der Mittelfeldspieler von Manchester United habe vor dem Foul, das zu dem von Toni Kroos verwandelten Elfmeter führte, den Ball verloren, weil er sich wegen seiner Größe (1,91 Meter) dazu verleiten lasse, sich für unverwundbar zu halten: "Er denkt: Mir kann keiner was", sagt Korkut. Ihm imponierte vor allem, wie Griezmann sich bei gegnerischem Ballbesitz fallen ließ. Das sei nicht nur defensivem Pflichtgefühl geschuldet gewesen, sondern dem Impuls, Räume zu suchen, wo sich kein Gegner um ihn kümmert. "In Spanien gibt es ein geflügeltes Wort, das in etwa heißt: Bereite den Angriff vor, wenn du dich verteidigst. Griezmann hat das perfekt verinnerlicht", sagt Korkut.

Ähnlich antizyklisch verhielt sich Griezmann nach dem Spiel. Die Tore drei und vier seiner Karriere gegen Deutschland, mit denen er zum legendären WM-Torschützenkönig Just Fontaine von 1958 aufschloss, der auch vier Tore gegen DFB-Teams erzielte? Nicht wichtig, sagte Griezmann: "Ich liebe die großen Spiele. Und Tore erlauben einem, von sich selbst zu reden. Aber das wichtigste ist das Team." Und an dem hatte er viel auszusetzen.

In der ersten Halbzeit "waren wir nicht wir", erklärte Griezmann. "Erst nach der Pause hat man die Elf gesehen, in der jeder für den anderen arbeitet, gegen die es nervt, zu spielen und die Weltmeister wurde." Trainer Didier Deschamps gestand, dass Griezmann im Recht war: "Dieses Problem gab es." Der Coach leugnete aber, dass Griezmann in der Kabine laut geworden sei. Deschamps wortspielte auf Französisch, als er in etwa sagte: "Antoine hat keine Schimpf-, sondern eine Kopfkanonade losgelassen, die uns weitergeholfen hat."

Griezmann spielte mal im Zentrum, mal auf der rechten Seite; als er gefragt wurde, ob er so etwas sei wie das kleine, handliche, praktische Schweizermesser der Franzosen, erklärte er: "Ich stehe im Dienst der Mannschaft und der Republik." Die Vermutung liegt nahe, dass ihn seine Tore dem "Goldenen Ball" näher bringen, der Trophäe für den besten Fußballer des Jahres. Ob er mit dem anderen Kandidaten, Kylian Mbappé, über den Ballon D'Or in der Kabine rede, ließ Griezmann offen. Er wirkte eher so, als habe er die Frage falsch verstanden: ob er oder Mbappé die Trophäe gewinnen werden. Denn Griezmanns antwortete: "On verra, mon ami, on verra!", zu Deutsch: Schaun mer mal.

© SZ vom 18.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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