Formel 1:Blutsbrüder

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Helm neben Kruzifix: Jules Lucien André Bianchi überlebte seinen Unfall beim Formel-1-Rennen in Japan nicht. Am Dienstag wurde seiner in Nizza gedacht. (Foto: Panoramic/imago)

21 Jahre nach Ayrton Senna stirbt Jules Bianchi: Zum ersten Mal sehen sich die aktuellen Fahrer mit dem Tod konfrontiert - vor dem Rennen in Ungarn ist eine seltene Solidarität zu spüren.

Von René Hofmann

Die Startnummer 17 wird es in der Formel 1 nicht mehr geben. An diesem Wochenende, beim Großen Preis von Ungarn, aber ist sie so präsent wie nie zuvor. Nico Rosberg und Lewis Hamilton, die beiden WM-Führenden, tragen sie an ihren Autos. Und Daniel Ricciardo hat sie sich mit Filzstift auf das rote Schild seiner Red-Bull-Kappe geschrieben, zusammen mit der Botschaft: "Für immer in meinem Herzen."

Seit dem vergangenen Jahr darf jeder Fahrer seine Startnummer selber wählen. Sie soll ihn durch die ganze Karriere begleiten. Die Startnummer 17 gehörte dem Franzosen Jules Bianchi, der im vergangenen Oktober beim Rennen in Suzuka von der Strecke abkam und mit seinem Auto unter einen Bergungskran rutschte. Am vergangenen Freitag starb der 25-Jährige. Am Dienstag fand die Trauerfeier in seiner Heimatstadt Nizza statt. An Bianchis Sarg lehnte ein Foto, das ihn im Rennoverall zeigte.; auf dem Sarg lag Bianchis Helm. Seine Rennfahrerkollegen Sebastian Vettel, Felipe Massa, Pastor Maldonado, Jean-Éric Vergne, Romain Grosjean und Adrian Sutil trugen den Sarg aus der Kathedrale. Bevor er in den Wagen geschoben wurde, in dem er seine letzte Reise antrat, bildeten sie einen Halbkreis, viele legten eine Hand auf das Holz.

Der Automobilweltverband hat beschlossen: Die Startnummer 17 wird künftig nicht mehr vergeben werden. Um 13.45 Uhr, eine Viertelstunde, bevor das Rennen auf dem Hungaroring startet, wird es am Sonntag eine Gedenkminute geben. Die Fahnen an der Strecke bei Budapest stehen auf halbmast. Das sind die offiziellen, verordneten Zeichen, dass die Formel 1 Trauer trägt. Am Dienstagvormittag, als die Trauernden in Nizza zusammenströmten, hatten die Formel-1- Teams ein Zeichen seltener Einigkeit ausgesendet: Über Twitter hatten sie Bilder verbreitet, die an Bianchi erinnerten. Das war ein organisiertes Zeichen des Gedenkens gewesen. Aber die individuellen? Wie gehen die Protagonisten damit um, die Hand wieder ans Steuer zu legen, nur ein paar Stunden, nachdem sie einen aus ihrem Kreis zu Grabe getragen haben?

Am liebsten würde er überhaupt nicht darüber reden, richtete Sebastian Vettel aus, "es ist kein Geheimnis, dass eine Beerdigung keine glückliche Veranstaltung ist". Vettel, 28, kannte Bianchi nicht gut. Der viermalige Weltmeister fährt vorne im Feld, Bianchi jagte mit unterlegenem Material meist weit hinterher. Außer der Leidenschaft für die Geschwindigkeit gab es kaum Berührungspunkte.

Weltmeister Hamilton glaubt: "Er würde wollen, dass wir weiter so hart fahren wie er."

Bei Nico Rosberg und Lewis Hamilton war das ähnlich. Trotzdem waren auch die beiden Mercedes-Fahrer, die in diesem Jahr den Titel unter sich ausmachen, am Dienstag an der Côte d'Azur. Einen Eindruck, der sie zurückstecken lässt, wollen sie von dort aber nicht mitgenommen haben. "Ich habe über die Jahre als Racer gelernt, dass ich alles hinter mir lasse, wenn das Visier unten ist", sagt Rosberg, 30. "Ich weiß, dass er wollen würde, dass wir weiter so hart fahren wie er", sagt Hamilton, 30, "und das habe ich vor." Ein tödliches Schicksal als Ansporn.

Aus der Halbdistanz mag das funktionieren; diejenigen, die Bianchi näher kannten, klingen anders. Wirklich angefast zu sein, gibt keiner zu. Aber Felipe Massa, 34, der sich wie Pastor Maldonado, 30, den Manager mit Bianchi teilte, räumt zumindest ein: "Beim Fahren denke ich nicht daran, dass ich Vater, Mutter, Frau und Kinder habe." Fernando Alonso erzählt von Tagen mit Bianchi im Doppelzimmer während eines Trainingslagers in der gemeinsamen Ferrari-Zeit: "Wir haben die Strecke miteinander geteilt, und jetzt ist er nicht mehr da." Für Alonso, 33, ist es die erste Begegnung mit dem Tod am Arbeitsplatz.

Die aktuelle Fahrer-Generation ist die erste in der Geschichte der Formel 1, die ohne das Sterben auf der Strecke aufwuchs. "Man fühlte sich an den Krieg erinnert: Man wusste nie, was morgen geschehen würde. Vor jedem Start hat man überlegt, wen erwischt es heute? Den vor mir? Den hinter mir? Mich?" Hans Herrmann hat so einmal die Stimmung im Fahrer- lager in den fünfziger und frühen sechziger Jahren beschrieben. Jackie Stewart, der von 1965 bis 1973 zu 99 Formel-1-Rennen antrat und dreimal den WM-Titel gewann, hat am Ende seiner Karriere mit seiner Frau zusammen die Kollegen gezählt, die während seiner Karriere tödlich verunglückten. Sie kamen auf 57. "Von den heutigen Rennfahrern kann sich keiner mehr vorstellen, wie das ist, wenn du für einen verunglückten Freund im Hotelzimmer die Sachen packen musst", das hat Stewart, inzwischen 76, 2009 gesagt.

Der letzte Formel-1-Fahrer, der sein Leben bei einem Rennen ließ, war vor Bianchi der Brasilianer Ayrton Senna gewesen. Er starb am 1. Mai 1994 nach einem Unfall in Imola im Krankenhaus in Bologna. Am 26. April 1994 wurde Daniel Kwiat geboren, der Russe, der für Red Bull fährt. "21 Jahre lang haben wir den Tod nicht erlebt. Und jetzt hat er wieder zugeschlagen. Ich spüre, dass ich mein Leben jetzt stärker wertschätze", sagt er. Und: "Ich hatte immer viel Respekt vor dem, was die anderen Fahrer leisten. Aber ich denke, dass wir jetzt noch mehr Respekt davor haben, was wir alle tun."

Daniel Ricciardo, 26, gibt zu, dass ihn die Diskussionen über Sicherheitsfragen bei den Treffen der Grand-Prix-Fahrer-Gewerkschaft GPDA bei seinem Formel-1-Einstieg vor fünf Jahren vor allem nervten. Ständig sei es um Dinge wie den Winkel eines Reifenstapels gegangen, den man treffen könnte, wenn plötzlich ein Reifen platzt. "Als junger Fahrer denkt man da nur: ,Das passiert doch eh nicht. Los, lass' uns Rennen fahren", zitiert die Fachpublikation autosport den Australier. Diese Einstellung habe sich nun grund- legend geändert.

Jenson Button, mit 35 Jahren und mehr als 270 Starts einer der Routiniers, geht es in diesen Tagen wie dem jungen Kwiat: Er macht eine besondere Verbundenheit aus. Anders als in den siebziger, den achtziger oder sogar noch den neunziger Jahren würden die Fahrer heute jenseits der Strecke nicht mehr viel Zeit miteinander verbringen, "und von außen sieht es so aus, als würden wir nicht viele Emotionen untereinander teilen, aber der Dienstag hat gezeigt, dass es diese Gefühle wirklich gibt und nicht nur Respekt", so Button: "Wir sind eine Gruppe Brüder, die einen verrückten Sport betreiben."

© SZ vom 25.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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