Formel 1 in Monza:Pierry Gasly gewinnt sensationell sein erstes Rennen

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Pierre Gasly war in Monza in Jubellaune. (Foto: Peter Fox/Getty)

Die Formel 1 erlebt einen turbulenten Nachmittag in Monza: Gasly siegt, Hamilton wird bestraft - und Ferrari versagt diesmal auf lebensgefährliche Weise.

Von Philipp Schneider, Monza/München

Teile flogen in die Luft. Und zwar in allen Farben, Formen und Größen. Wie ein Rammbock stach Sebastian Vettel in seinem roten Rennwagen am Ende der Start- und Zielgerade durch die leichten Hindernisse, die sie dort auf der Strecke errichtet hatten, damit niemand geradeaus fahren möge durch die Auslaufzone. Diese Styropor-Barrikaden schossen steil in die Höhe wie Mondraketen. Aber auch von Vettels Auto bröckelten Teile. Kleine schwarze Objekte flogen hoch hinaus in die Lüfte, das zeigte ein Blick auf das Bild der rückwärtig ausgerichteten Kamera an seinem Ferrari.

"Die Bremsleitung ist explodiert. Ich habe kein Bremspedal mehr", klagte Vettel.

Es war Vettels letzter Ausritt als Fahrer der Scuderia Ferrari auf dem Autodromo Nazionale in Monza, dem Zentrum allen Motorsportdaseins Italiens. Und nun löste sich zum Abschied der Ferrari eines viermaligen Weltmeisters in seine Bestandteile auf. Was für ein Bild!

Vettel floh in Sarkasmus.

Am Ende gewinnt tatsächlich Pierre Gasly

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Die Akte mit den blamablen Rückschlägen unter Ferraris Teamchef Mattia Binotto füllt sich auch in Monza weiter. Das Erbe von Enzo Ferrari wiegt schwer für die Männer an der Spitze der Scuderia.

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"Am Dienstag bin ich im Simulator, das Auto hält wenigstens", sagte er - Minuten nach dem Rennen, als er sich wieder gesammelt hatte. Nicht, dass Vettel etwas mit dem Rennsieg zu tun gehabt hätte, wäre das Auto nicht auseinandergefallen. Von Position 17 aus war er losgerollt, sein Teamkollege Charles Leclerc aus Parkbucht 13. Zum ersten Mal seit 36 Jahren hatten sich beide Ferraris in Monza nur auf Plätzen jenseits der ersten Zehn wiedergefunden. Und auch Leclerc sah die Zielflagge nicht. Mit einem Tempo nahe der 300 km/h verlor er in der Parabolica das Heck, sein Ferrari landete in einem Reifenstapel. Die physikalischen Kräfte brachten die Gummiwand zum Einsturz. Leclerc entstieg dem Auto aus eigener Kraft und begab sich nach dem heftigen Aufprall zur medizinischen Untersuchung. Um den Stapel wieder neu zu sortieren, wurde das Rennen nach 27 von 53 Runden unterbrochen. Rote Flagge. Ursache und Wirkung: Ab sofort tanzte der Wahnsinn im Königlichen Park von Monza.

Denn während Ferrari das nächste Debakel erlebte, schrieben andere die Geschichte dieses Rennens. Jene drei Rennfahrer, die eine geradezu sensationelle Podiums-Besetzung formten. Ganz oben stand tatsächlich Pierre Gasly, Lenker eines Alpha Tauri. Und neben ihm lauschten McLaren-Pilot Carlos Sainz und Racing-Point-Pilot Lance Stroll der französischen Hymne. "Das war der schlimmste Ausgang eines schwierigen Wochenendes", sagte Ferrari-Teamchef Mattia Binotto. Und das war eine treffende Analyse.

Genau wie jene, die Vettel folgen ließ: "Im Moment ist der Spaßfaktor nicht auf dem Höhepunkt", sagte er: "Der Drops ist aber gelutscht. Nächstes Jahr betrifft mich nicht."

Für eine unterhaltsame Nebenhandlung sorgte Lewis Hamilton, der nach einem für ihn sehr unüblichen Fehler versuchte, das Feld vom letzten Platz aus aufzurollen und noch einen Rückstand von 30 Sekunden auf den Führenden aufzuholen: Nach einer frühen Safety-Car-Phase war Hamilton blitzschnell zum Reifenwechsel abgebogen - obwohl die Boxengasse noch nicht geöffnet war. Dafür musste er zur Strafe ein weiteres Mal für zehn Sekunden halten in der Versorgungsgasse.

Das Rennen in Monza sollte ursprünglich die erste Antwort auf eine brennende Frage geben: Hilft die Technische Direktive 037-20, Mercedes auszubremsen? In Monza hatte der Weltverband Fia erstmals den sogenannten "Party-Modus" der Motoren verboten: eine Einstellung, die den Piloten auf Knopfdruck Maximalleistung für kurze Zeit zur Verfügung stellte.

Die erste Antwort lautet: nein, nö, mitnichten. Mercedes wurde ausgebremst. Aber nicht von der Direktive 037-20.

Als sei nichts gewesen, parkten Hamilton und Valtteri Bottas ihre Dienstwagen in der ersten Reihe. Hamilton stellte sogar einen neuen Streckenrekord auf. Ferrari? Für die Italiener war es selbstverständlich egal, ob ihre Maximalleistung nur auf Knopfdruck oder dauerhaft zur Verfügung steht. Ihr Problem ist bekanntlich die Maximalleistung an sich. Dass Vettel nur 17. wurde in der Qualifikation, lag an der Langsamkeit seines Dienstwagens, die diesmal noch veredelt wurde von einer falschen Strategie: Bei seinem entscheidenden letzten Versuch schickte ihn der Kommandostand raus in ein Verkehrsaufkommen, das an die Rush Hour in New York erinnerte.

Die Ampeln gingen aus in Monza, und los ging die wilde Fahrt der McLaren. Beziehungsweise: die Irrfahrt des Valtteri Bottas, der nach der Rennfreigabe fast stehen blieb. Noch vor der ersten Kurve schob sich Carlos Sainz vorbei am Silberpfeil des Finnen, noch vor Ablauf der ersten Runde auch dessen Teamkollege Lando Norris sowie Sergio Perez im Racing Point und Daniel Ricciardo im Renault. Max Verstappen, der als Fünfter losgerollt war, fiel in derselben Zeit zurück auf Rang acht. "Wir müssen lang draußen bleiben", kündigte Bottas an. Er meinte: vor dem ersten Halt an der Box.

Er konnte ja nicht ahnen, welch wilde Wendungen das Rennen nehmen würde.

Gasly profitiert vom Neustart des Rennens

Unaufhaltsam setzte sich Hamilton zu Beginn ab an der Spitze, verschaffte sich Distanz zu den zwei McLaren. Bis ein Defekt Kevin Magnussen stoppte - sein Haas rollte aus neben der Strecke und rief das Safety Car auf den Plan. Hamilton reagierte blitzschnell, fuhr zum Reifentausch an die Box. Auch Antonio Giovinazzi im Alfa Romeo. Eine Untersuchung wurde eingeleitet: War die Boxengasse in dem Moment überhaupt geöffnet? War sie nicht. Die Fahrer erhielten Stop-and-Go-Strafen.

In Runde 24 erfolgte der erste Neustart. Doch lange rollten die Autos nicht: Es folgte der heftige Crash von Leclerc in Umdrehung 27 - Rennunterbrechung. Die Piloten kletterten in der Boxengasse aus ihren Autos. Hamilton, der in dieser Phase von seiner Strafe erfuhr, kurvte munter auf seinem Elektroroller durch die Box. Nach einer Pause von mehr als 20 Minuten starteten die Wagen in der Boxengasse wieder ihre Motoren, folgten eine Runde lang dem Safety Car, ehe das Rennen mit einem stehenden Start freigegeben wurde.

Die Wirren des Rennverlaufs hatten die McLaren, die vormals auf den Plätzen zwei und drei zu finden waren, zurückgeworfen auf die Positionen sechs und sieben. Bei Wiederstart parkte Hamilton vor Lance Stroll im Racing Point, Pierre Gasly im Alpha Tauri und den Alfa-Romeo-Piloten Kimi Räikkönen und Antonio Giovinazzi. Nicht nur Schelme fragten sich in diesem Moment, an welchen Positionen die Ferraris wohl zu finden gewesen wären, wären sie noch fahrtüchtig gewesen.

Wenn schon eine Bestrafung, dann lieber sofort, dachte sich Lewis Hamilton. So schnell wie möglich fuhr er in die Boxengasse. Als er auf die Strecke zurückkehrte, rollte er 29 Sekunden hinter dem Führenden, der nun tatsächlich Pierre Gasly hieß.

In der 31. Runde stoppte ein Defekt Max Verstappen, er kletterte frustriert aus seinem Red Bull. Hamilton? Fuhr wie entfesselt, er legte eine schnellste Runde nach der nächsten vor und kämpfte sich nach vorne. Vorbei an Russell, vorbei an Grosjean, an Albon, an Perez. Dann allerdings hing er fest hinter Daniel Ricciardo auf Platz sechs. Das hätte der sich vorher auch nicht träumen lassen.

Genauso wenig wie Gasly, der Carlos Sainz bis zum Ende auf Distanz hielt.

© SZ vom 07.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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